Seit Jahren ein Paradoxon: Im wirtschaftlich prosperierenden Deutschland ist fast jedes vierte Kind von Armut betroffen, für zwei Drittel von ihnen ist Armut ein Dauerzustand. Die Folgen sind bekannt: Mädchen und Jungen aus armen Familien können sich weniger an Freizeitaktivitäten beteiligen, sie fühlen sich oft ausgegrenzt. Noch gravierender: Sie haben häufiger gesundheitliche Probleme und schlechtere Chancen im Bildungssystem.
Eine Bertelsmann-Studie kommt nun zu dem Ergebnis, dass direkte Zahlungen an arme Familien am besten geeignet sind, um diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Die am Mittwoch vorgestellte Untersuchung widerlegt das gängige Vorurteil, dass Eltern diese Hilfen "zweckentfremdet" für Alkohol, Tabak oder Elektronik ausgeben. Sie investieren die Mittel in ihre Kinder. Die Politik müsse deshalb umsteuern und einen Paradigmenwechsel einleiten: Statt komplizierte Anträge auszufüllen, sollen Kinder und Jugendliche zielgerichtet finanzielle Leistungen erhalten.
Sportverein und Musikunterricht fürs Kindergeld
Die Ergebnisse der Studie sprechen für sich: Je 100 Euro Kindergeld steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind eine Kindertagesbetreuung besucht, um 5 Prozentpunkte. Isoliert betrachtet ist dieser Effekt für den Zeitraum nach dem Jahr 2000 mit 10 Prozentpunkten noch größer: Offenbar haben seitdem frühkindliche Bildungseinrichtungen aus Sicht der Familien an Bedeutung gewonnen.
Darüber hinaus führten Direktzahlungen dazu, dass Kinder häufiger zum Sport (Anstieg um 8 Prozentpunkte) oder zur Musikerziehung gehen (Anstieg bei Kindern unter 6 Jahren um 7 Prozentpunkte, bei jenen zwischen 6 und 16 Jahren um 11 Prozentpunkte).
Reformbedürftig: zweckgebundene Sach- und Geldleistungen
Schlechte Noten erhalten dagegen die zweckgebundenen Sach- und Geldleistungen - wie das Bildungs- und Teilhabepaket: Bei diesen Leistungen werde mit rund 30 Prozent ein erheblicher Teil der zur Verfügung stehenden Mittel für den Verwaltungsaufwand verbraucht.
Dazu komme, dass viele Bedürftige die Mittel gar nicht erst beantragten.
Die Analyse kommt vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim, die bereits vor einigen Jahren die familienpolitischen Leistungen unter die Lupe nahm. Untersucht wurde dazu die Verwendung von zwei staatlichen Leistungen für Familien - dem Kindergeld sowie dem Landeserziehungsgeld - in verschiedenen Bundesländern für den Zeitraum von 1984 bis 2016.
Bedingungen für ein gutes Aufwachsen gefordert
Die Autoren der Studie plädieren deshalb für die Einführung eines sogenannten Teilhabegeldes. Diese Leistung soll steuerfinanziert sein und viele andere Maßnahmen wie Kindergeld, den Hartz IV-Kinderregelsatz ersetzen und mit steigendem Einkommen abgeschmolzen werden. Anspruchsberechtigt sollen demnach Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre. Bei jungen Erwachsenen soll es bis zum 25. Lebensjahr gezahlt werden.
Viele familienpolitische Verbände gehen da mit: Bundestag und Bundesregierung müssten endlich Bedingungen für ein gutes Aufwachsen von armen Kindern schaffen, sagte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, Holger Hofmann. "Es bleiben keine Ausreden mehr, um Kinder finanziell endlich so abzusichern, dass sie unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern gut aufwachsen können."
Bundesregierung plant Kinderzuschlag
Auch der Familienbund der Katholiken erklärte, die Ergebnisse machten klar, dass Eltern am besten wüssten, wie sie mit Förderleistungen am sinnvollsten umgehen sollten. Bedürftige Eltern in Gesetzen indirekt unter den Generalverdacht der Zweckentfremdung zu stellen, sei einfach falsch, so Familienbund-Präsident Ulrich Hoffmann.
Unterdessen steuert die Bundesregierung derzeit in eine andere Richtung: Verbessert werden einzelne Leistungen: So wurde das Kindergeld leicht erhöht. Derzeit befindet sich zudem der Entwurf für ein "Starke-Familien-Gesetz" in der Ressortabstimmung, das eine Reform einzelner Leistungen vorsieht: So soll das Bildungs- und Teilhabepaket reformiert werden, das von den Autoren als zu bürokratiebehaftet kritisiert wird. Zudem ist eine Erhöhung des Kinderzuschlags geplant, eine Leistungen, die Familien mit geringem Einkommen entlasten soll, die aber weitgehend unbekannt ist.