Diesen Aderlass will das Bistum Essen einfach nicht mehr so hinnehmen: Jedes Jahr kehren der katholischen Kirche im Ruhrgebiet zwischen 4.000 bis 5.000 Menschen den Rücken, treten also aus. Um mehr über ihre Motive zu erfahren und von ihnen zu lernen, hat die Diözese eine Kirchenaustritt-Studie in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse werden am Donnerstag bei einer Tagung in Mülheim an der Ruhr vorgestellt.
Die Antworten fallen hart aus und sind für manchen Katholiken nur schwer erträglich. Dennoch oder gerade deshalb sehen Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck und sein Generalvikar Klaus Pfeffer in den Ausgetretenen wichtige Ansprechpartner.
Gut 3.000 Menschen befragt
"Es kann doch nicht sein, dass uns innerhalb der Kirche völlig egal ist, wenn eine erschreckend hohe Zahl getaufter Katholikinnen und Katholiken enttäuscht, frustriert oder gar zornig zum Amtsgericht geht", betont Pfeffer. Für die Studie "Kirchenaustritt - oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss" wurden 3.000 Personen aus dem Ruhrgebiet online befragt, darunter rund 450 Ausgetretene.
Und die sprechen Tacheles – etwa dass sie "die Arroganz der Bischöfe ankotzt", sich ein Wiederheirater nur noch als "Christ zweiter Wahl" fühlt, das "Verhütungsverbot einfach nicht mehr zeitgemäß ist" oder "Männer und Frauen in der Amtskirche nicht gleichberechtigt sind".
"Machtpositionen werden schamlos ausgenutzt und mit meinem Geld Prunk-Paläste gebaut", schreibt ein Befragter. Und ein anderer notiert, dass "ich schwul bin und die Kirche nichts anzubieten hat außer Hass, Ablehnung".
Entfremdung und fehlende emotionale Bindung zur Kirche
Laut Studie liegen die Hauptgründe in einer langen Phase der Entfremdung und einer fehlenden emotionalen Bindung zur Kirche. Die Unzufriedenheit mit der Kirchensteuer sei dann meist nur noch der Auslöser für einen Austritt. Zu den am meisten genannten Gründen zählen eine "nicht mehr zeitgemäße Haltung" im Bereich der Sexualmoral, das Frauenbild der Kirche, ihre Positionen zu wiederverheirateten Geschiedenen und dem Zölibat.
Jeder zehnte Befragte nennt die Missbrauchsfälle oder die Finanzaffäre um das Limburger Bischofshaus. Eine große Zahl der Mitglieder sind laut der im Freiburger Verlag Herder erschienenen Studie nur noch formal Teil der Kirche. So besuchen mehr als 90 Prozent der Getauften keine oder nur wenige Gottesdienste.
Eine Frage des Geldes
Wie sehr die Austritte das Bistum finanziell belasten und damit seine Handlungsmöglichkeiten einschränken, erläutert Finanzchef Daniel Beckmann. Pro Person, die der Kirche den Rücken kehrt, gehe der Diözese im Jahr 500 bis 1.000 Euro an Kirchensteuereinnahmen verloren. Bei 4.000 Austritten bedeute das jährlich einen Verlust von bis zu vier Millionen Euro – was dem Trägeranteil der Kirche für vier Schulen oder 40 Kitas entspreche. Für den Ökonomen ist wichtig, dass die Kirche das richtige "Produkt" anbietet, um in der Zukunft zu bestehen.
Indes: Kirchliche Positionen zu Homosexualität oder wiederverheirateten Geschiedenen "sind nicht beliebig verhandelbar", halten die Studienautoren fest. Umgekehrt betont Generalvikar Pfeffer, dass sich die Kirche durch die Ausgetretenen auch in ihren Lehr- und Moralfragen infrage stellen lassen müsse. Aber auch jenseits von dogmatischen Festlegungen gibt die Studie Hinweise, was die Kirche besser machen kann, damit Menschen bei ihr bleiben.
Konsequenzen im Bistum Essen
Ein bedeutender Ansatzpunkt sind die Gottesdienste aus persönlichem Anlass, also die Taufe eines Kindes oder die Beerdigung eines Verwandten. Geht bei diesen sogenannten "Kasualien" etwas schief, treten Menschen aus. Läuft es gut, kann das einen Wiedereintritt bedeuten. Das Bistum Essen hat erste Konsequenzen gezogen: Wer kirchlich heiraten will und seine Traumkirche sucht, dem hilft seit einigen Monaten ein Hochzeitsplaner.
Die Studienautoren halten fest, dass immer weniger Menschen über ihre Familie in die Kirche hineinwachsen. Dennoch fänden sich auch unter den Kirchendistanzierten viele Religiöse. Für diese "spirituellen Wanderer" müsse die Kirche ein offener, aber nicht fordernder Begleiter sein. In diesem Sinne plädieren sie für ein neues Verständnis von Mitgliedschaft und eine "Kirche mit offenen Rändern in Bewegung".