Studie über Chatprotokolle von Islamisten

"Religiöse Analphabeten"

Wie radikalisieren sich junge Menschen? Forscher konnten erstmalig Chatprotokolle einer islamistischen Gruppe auswerten. Die Protokolle lassen Rückschlüsse über den Weg der Radikalisierung und das Religionsverständnis zu.

Symbolbild: Jugendlicher mit Handy / © Angelika Warmuth (dpa)
Symbolbild: Jugendlicher mit Handy / © Angelika Warmuth ( dpa )

domradio.de: Forscher der Universitäten Osnabrück und Bielefeld haben erstmals Chatprotokolle einer Whatsapp-Gruppe ausgewertet, die mit dem Ziel eines Anschlags gegründet wurde. Es handelt sich um über 5.000 Nachrichten, geschrieben von zwölf jungen Männern zwischen 15 bis 35 Jahren. Sie waren an der Studie beteiligt: Worum ging es denn in diesen Nachrichten?

Michael Kiefer (Islamwissenschaftler an der Universität Osnabrück): Es handelt sich hierbei um ein Kommunikationsprotokoll, das sich über einen Zeitraum von drei Monaten erstreckt. Die Whatsapp-Gruppe wurde gegründet, als es bereits einen Anschlagsplanung gab, das heißt, es gab im Vorfeld dieser Chatgruppe schon eine Radikalisierung und die Gruppe wurde gegründet, um alltägliche Informationen auszutauschen und Diskussionen zu führen.

Und es ging auch viel um Religion und da kann man Erstaunliches vernehmen: Da erfahren wir zum Beispiel, dass einer der jungen Männer, die sich selbst als Djihadisten ansehen, zu Hause noch nicht einmal einen Koran hatte. Ein anderer wusste nicht, wie man richtig betet und welche Kleidung man dafür anziehen muss. Und das war für uns ganz erstaunlich, denn wir sind natürlich davon ausgegangen, wenn junge Männer sich zu einem derartigen Schritt entscheiden, einen Anschlag vorzubereiten, dass sie gewisse Dinge ideologisch geklärt haben. Aber das war mitnichten so.

domradio.de: Das heißt, mit dem Islam als Religion konnten die nicht viel anfangen?

Kiefer: Doch schon, aber sie haben zum Islam ein sehr instrumentelles Verhältnis. Sie nehmen sich also bestimmte Dinge heraus, um sich damit zu ermächtigen. Der Hintergrund ihrer Radikalisierung ist schon einigermaßen klar: Sie bewundern den Islamischen Staat, sie bewundern die Kombattanten des IS, sie bezeichnen diese als "Löwen" und sie wollen auch "Löwen" werden. Aber es ist die Faszination dieses Aufstandes, dieser Gewalt und weniger das Religiöse, das hier eine Rolle spielt.

Das zeigt sich dann tatsächlich immer wieder in den Dialogen, in denen man ganz klar erkennen kann, dass diese Jugendlichen nicht im klassischen Umfeld einer Moschee sozialisiert wurden und Koran-Unterricht erhalten hatten. Man könnte sagen, sie waren zu weiten Teilen "religiöse Analphabeten".

domradio.de: Was war die für Sie überraschendste Erkenntnis bei der Auswertung dieser Chat-Protokolle?

Kiefer: Da gab es mehrere Aspekte: Zum einen die Gruppenstruktur: Die jungen Männer haben sich selbst einen "Amir", einen Oberbefehlshaber gegeben, der der Gruppe Anweisungen gegeben hat. Uns war bis dato nicht klar, dass Jugendgruppen sich in so einer Formation eine hierarchische Struktur geben.

Die zweite Überraschung war tatsächlich die Zielstrebigkeit, die mit der die jungen Leute ihr Projekt betrieben haben. Ich fand es sehr erstaunlich, dass Jugendliche derart ernsthaft und gezielt einen Anschlag vorbereiten. Es handelte sich in der Tat um brandgefährliche junge Männer und nicht um Dumme-Jungen-Streiche, wie man vielleicht denken würde.

Und eine weitere Überraschung habe ich schon angesprochen, nämlich wie wenig Ahnung die jungen Männer von Religion hatten, dass man ein eklektizistisches Verhältnis zu den Quellen hat. Also man nimmt sich hier und da etwas, schaut, dass es irgendwie der jeweiligen Bedürfnislage entsprechend zusammenpasst und man ist wenig bemüht, eine Stringenz oder Kohärenz in der Argumentation herzustellen. Es geht einfach darum, dass man das Ding ans Laufen kriegt.

domradio.de: Als Islamwissenschaftler beschäftigen Sie sich schon seit einigen Jahren mit der Radikalisierung junger Muslime. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie jetzt gewonnen?

Kiefer: Wir wussten ja schon länger, dass Radikalisierung nie nur durch einen Faktor ausgelöst wird. Also, Religion ist natürlich ein Faktor, aber wir gehen davon aus, dass es zehn bis zwölf weitere Faktoren gibt, die eine Rolle spielen: persönliche Krisensituationen beispielsweise, entwicklungsspezifische Phasen in der Pubertät oder Diskriminierungserfahrungen.

Hier ist Religion nur ein Faktor und die Frage, die sich uns Wissenschaftlern immer stellt, ist: Wie wirken diese Faktoren, wann sind junge Menschen sensibel für Ansprachen aus einem terroristischen Milieu? Und genau das lässt sich hier beobachten: Junge Menschen, die offenbar auf der Suche waren, waren ansprechbar für solche Themen, sie waren so fasziniert vom Terrorismus, dass sie offenbar das Bedürfnis hatten, sich selbst zu erhöhen, zu ermächtigen, einen Anschlagsplan zu entwerfen und umzusetzen.

domradio.de: Was bedeuten die Erkenntnisse Ihrer Studie für die Praxis? Zum Beispiel für die Prävention?

Kiefer: Die Lektion für uns lautet: Man muss sehr, sehr früh da sein. Zu dem Zeitpunkt, als der Chat stattfand, waren diese jungen Männer schon sehr stark radikalisiert. Das konnte man auch daran merken, dass sie nicht mehr offen für Kommunikation waren. Die Gruppe war schon sehr verschlossen, man misstraute anderen, die um einen herum waren. Da war es für Prävention in dem Fall eigentlich schon zu spät.

Für uns bedeutet das: Man muss in der ersten Phase der Radikalisierung präsent sein und wir müssen alle, die um diese jungen Menschen herum sind – also: Lehrer, Sozialarbeiter, die Jugendhilfe, aber natürlich auch Eltern und Verwandte -  sensibilisieren für erste Anzeichen von Radikalisierung. Wir müssen sie fit machen, dass sie das frühzeitig erkennen und sich dann auch Hilfe holen in Fachberatungsstellen, von denen wir ja mittlerweile auch welche im Land haben. 

Das Interview führte Martin Mölder


Junge Muslime bei Veranstaltung mit Salafistenprediger Pierre Vogel (Archiv 2013) / © Thomas Lohnes (epd)
Junge Muslime bei Veranstaltung mit Salafistenprediger Pierre Vogel (Archiv 2013) / © Thomas Lohnes ( epd )
Quelle:
DR