DOMRADIO.DE: Vor genau 80 Jahren hatte Anne Frank ihren letzten Tagebucheintrag verfasst. Was erzählt er uns über den Menschen Anne Frank?
Olaf Georg Klein (Tagebuchforscher): Da sieht man sehr schön, dass sie - wie man so schön sagt - zwei Seelen in ihrer Brust hat. Einmal die nach außen gewandte, die witzige, die lebendige und einmal die ganz stille, eher weise, nach innen gewandte. Dass sie in der Lage war, diese feinen Unterschiede in der Persönlichkeit wahrzunehmen und sich so wortgewaltig ausdrücken konnte, bedeutet, dass sie sehr gut darin war, in sich hineinzuhören und in sich hineinzufühlen. Sie hat sich in ihren Worten nicht von irgendwelchen Reflexen leiten lassen - ohne wirklich über sie nachgedacht zu haben.
DOMRADIO.DE: "Ein beinahe letztes Reich der Freiheit”, haben Sie Tagebücher mal genannt. Welchen Wert hat ein Tagebuch in einem Reich der Unfreiheit – so wie das Reich, in dem Anne Frank sich verstecken musste?
Klein: Man könnte sogar sagen: Je unfreier das Umfeld ist, desto wichtiger ist es ein Tagebuch zu haben. "Reich der Freiheit" heißt, dass man immer einen Gesprächspartner hat, so komisch, wie sich das anhört. Wenn man Tagebuch schreibt, dann ist man im Dialog, dann ist im man im Gespräch, in einem sehr konzentrierten Selbstgespräch. Das ist zugegeben aber schwierig zu vermitteln, wenn man in einer freien Gesellschaft lebt, in der scheinbar alles möglich ist und es keine Sprech- oder Denkverbote gibt.
DOMRADIO.DE: Finden Sie es in Ordnung, dass so intime Gedanken von Dritten veröffentlicht werden?
Klein: Man muss natürlich erst mal davon ausgehen, dass das Tagebuch nie zur Veröffentlichung geschrieben worden ist. Jedenfalls am Anfang nicht. Später hatte sie die Idee, das auch zu publizieren, schon. Deswegen finde ich es auch in Ordnung, dass der Vater es herausgegeben hat.
DOMRADIO.DE: Sie haben das Tagebuchschreiben beforscht und darüber geschrieben. Wie wird sich die Situation, in der sie damals lebte, auf sie ausgewirkt haben?
Klein: Eine solche Isolation und eine solche bedrohliche Situation laden dazu ein, sich mit seinem Innenleben zu befassen; sich zu fragen, wer man ist und was der eigentliche Sinn von dem ist, was man gerade erlebt. Diese intensive Beschäftigung mit sich und mit der Situation, mit dem Schreiben und alldem was damit zusammenhängt, hilft dabei sich als Subjekt wahrzunehmen und nicht nur als ein Objekt der Umstände. Das ist es, glaube ich, was ein Tagebuch dem einzelnen Menschen immer geben kann. Die Selbstwerdung.
DOMRADIO.DE: Das Werk von Anne Frank gehörte schon in den 50er Jahren zu einem historischen Dokument. Woran liegt das?
Klein: Erstmal ist es berührend zu sehen, dass ein so junges Mädchen dermaßen wortgewaltig und präzise formulieren konnte. Dazu kommt ihr tragisches Schicksal. Es ist traurig nachvollziehen zu können, wie dieser junge Mensch aufblühte, um dann ermordet zu werden. Das spielt eine große Rolle.
Zudem hat sie eine Vorbildfunktion. An ihr sieht man, dass man sich sogar in solchen ausweglosen Situationen selbst finden und es schaffen kann, sich auf sich selbst zu zentrieren. Ich glaube, da kommen ganz viele Dinge zusammen.
DOMRADIO.DE: Was kann uns ihr Tagebuch heute noch erzählen?
Klein: Dass Selbstbestimmung und Selbstwerdung einem nicht geschenkt werden, sondern dass man sie sich erarbeiten muss. Schauen Sie sich diese TikTok-Gesellschaft an. Es hat einen Grund, dass es so viele Sinnfragen und so viele Sinnlosigkeitserfahrungen unter Jugendlichen gibt.
Ich glaube, das liegt daran, dass sich die jungen Menschen nicht mehr als Subjekt des Handelns, oder ein Subjekt dieser Welt wahrnehmen, sondern nur noch als Objekt oder als Teil von irgendwelchen Gruppen oder soziologischen Kategorien; nicht mehr als Menschen, die aus ihrem eigenen Zentrum heraus agieren. Wenn alles so beliebig und oberflächlich wird, sind Sinnkrisen ja fast schon vorhersehbar.
DOMRADIO.DE: Sie sagten mal, dass man mit dem Tagebuch seine Zeit dehnen, verdichten und vervielfachen könne. Was meinen Sie damit?
Klein: Situationen, die im realen Leben vielleicht nur ein oder zwei Minuten gedauert haben, können gefühlt mehrere Stunden dauern, wenn man sie sehr fein beschreibt; das Denken, das Fühlen, die Assoziationen, die Umstände. Das ist die Zeitdehnung. Dadurch erfährt man gleichzeitig eine unglaubliche Vertiefung der Situation und der Wahrnehmung, die man in dieser Situation hatte.
Das Vervielfachen der Zeit kommt dann zum Tragen, wenn man seine Tagebücher nochmal liest. Dann braucht man vielleicht zwei oder drei Tage, dafür hat man eine lange Zeit, die man schonmal verarbeitet hat nochmal durchlebt.
DOMRADIO.DE: Wie kann man der Generation TikTok das Tagebuchschreiben heute nahebringen?
Klein: Am besten durch gute Vorbilder. Durch gute Lehrer, die Schülern eine andere Sicht auf die Welt zeigen und sie davon überzeugen, dass es viele gute Gründe dafür gibt. Dafür sollte man vielleicht auch Tagebücher wie das von Anne Frank im Unterricht behandeln, oder das von Etty Hillesum, die ebenfalls ein sensationelles Tagebuch geschrieben hat in der Zeit des Faschismus und auch deportiert wurde.
Wenn man solche Tagebücher liest merkt man was für ein unglaubliches Potenzial darin steckt, weil man sich eben nicht im Außen verliert, sondern sich auf sich selbst konzentriert. Das ist, glaube ich, die allerwichtigste Botschaft in diesem Zusammenhang.
DOMRADIO.DE: Können Fotos und Videos einen nicht in die gleiche Stimmung versetzen wie Tagebücher?
Klein: Das Schreiben ist ein anderer Prozess, als auf den Auslöser zu drücken. Beim Schreiben gehen Sie automatisch nach innen. Das Foto bildet tendenziell eher die Oberfläche ab. Natürlich kann man sich, wenn man sich ein Foto anschaut, an eine Situation erinnern und bestimmte Emotionen dadurch erleben, oder wiedererleben.
Aber je weiter das Foto weg ist, umso schwieriger wird es nach meiner Erfahrung, diese Emotionen wieder abzurufen. Was übrig bleibt, sind dann farbige Pixel auf einem Papier. Sätze und Emotionen, Gefühle, Gedanken und Assoziationen, die man hatte, weil man sie selber formuliert hat, haben eine völlig andere Durchschlagskraft.
DOMRADIO.DE: Sie haben evangelische Theologie studiert. Hat Ihre Forschung zum Tagebuch etwas damit zu tun?
Klein: Das Tagebuch hat sich in Europa in den letzten 400 Jahren entwickelt und zum Teil auch im Widerstand zur Kirche. Es gibt ein berühmtes Zitat von einem Kardinal: "Ein Christenmensch sollte kein Tagebuch führen." Es hat insofern was mit dem evangelischen Glauben zu tun, dass das Tagebuchschreiben aus diesen Gebetsbüchern entstanden ist., mit denen man sich am Abend hingesetzt hat und sich selbst fragte, was man als Christenmensch an diesem Tage überhaupt gemacht hat, ob das gottgefällig war oder nicht, ob man gesündigt hat oder nicht und an welcher Stelle man sich am nächsten Tag verbessern könnte. Diese Selbstbetrachtungen sind Vorläufer von dem, was wir heute als Tagebücher wie das von Anne Frank kennen.
Das Interview führte Clemens Sarholz.