DOMRADIO.DE: Die Tatortkarte zeigt Orte, an denen nachweislich Mitarbeitende der katholischen Kirche zwischen 1945 und 2023 sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und Schutzbefohlenen ausgeübt haben. Was hat Sie dazu bewogen, eine solche Tatortkarte zu erstellen?
Josef Otto* (Entwickler der Tatortkarte / *Name von der Redaktion auf Wunsch geändert): Im Juni haben sich die Betroffenenbeiräte aus Nordrhein-Westfalen in Paderborn getroffen. Zum Schluss dieser zweitägigen Tagung haben wir übereinstimmend gesagt, dass wir eine solche digitale Karte machen wollen, in denen diese Orte sichtbar werden.
Ich habe mich bereit erklärt, diese Karte zu erstellen. Dass das mit so vielen "Unebenheiten" verbunden war, haben wir natürlich nicht geahnt. Wir haben ein Gespräch mit den Interventionsbeauftragten, der Interventionsstelle hier in Köln gesucht. Das war im September letzten Jahres. Dort hieß es, man müsse sich mit den anderen Interventionsstellen seitens der Interventionsstelle Köln auseinandersetzen. Das Gespräch fand im November statt. Aber da war dann nur die Interventionsbeauftragte des Erzbistums Köln anwesend, die stellvertretend für die anderen Interventionsbeauftragten dabei war. Außer mir haben noch Leute aus weiteren drei Bistümern aus Nordrhein-Westfalen teilgenommen.
Die Interventionsstelle Köln meinte dann, die Erstellung so einer Karte müsste zunächst juristisch geklärt werden. Ich habe auch meine Bereitschaft dazu erklärt, mich mit der Juristin des Erzbistums und mit der Interventionsbeauftragten zusammenzusetzen. Das zog sich bis Jahresende hin. Die Juristin sagte dann, das sei nicht ihr Gebiet, darum würde sich der Datenschutzbeauftragte kümmern. Dann habe ich dessen E-Mail-Adresse und weitere Kontaktdaten bekommen und mich mit ihm auseinandergesetzt.
Etwa zehn Tage vor Ostern hat die Interventionsstelle dann seinen Bericht über dieses Gespräch bekommen, woraus klar hervorging, dass aus datenschutzrechtlichen Gründen nichts weiter dagegen zu sagen ist.
Wir haben dem Bistum seitens des Beirats klar gemacht, dass wir diese Orte benannt bekommen wollen, sonst müssten wir andere Wege gehen.
Daraufhin habe ich vom Sekretariat des Erzbischofs einen Termin erhalten, wiederum bei der Juristin, was mich sehr gewundert hat. Ich sagte, dass wir uns im Kreis drehen, weil sie doch nicht zuständig sei. Doch, sie sei zuständig, erhielt ich als Antwort. Also habe ich mich wieder mit der Juristin zusammengesetzt. Das war etwa eine Woche nach Ostern.
Wir haben das alles besprochen und festgestellt, dass es keine Hinderungsgründe gibt, nur die Orte zu benennen. Wir nennen die Orte, in denen etwas mit sexualisierter Gewalt durch Mitarbeitende der katholischen Kirche im Erzbistum Köln passiert ist. Eine übergreifende, auf andere Bistümer bezogene Karte, war völlig illusorisch. Wir haben aber mit den Bistums-Betroffenenbeiräten aus Nordrhein-Westfalen nochmal zusammengesessen und man will auch in den anderen Bistümern in Kürze so etwas machen.
DOMRADIO.DE: Welche Daten haben Sie für die Tatortkarte als Grundlage genommen?
Otto: Wir haben diese Karte aufgrund der Daten erstellt, die wir von der Interventionsstelle bekommen haben. Es sind alle die Tatorte benannt, in denen ein Täter entweder geständig war oder er verurteilt worden ist sowie bei Tätern, die schon längst verstorben sind, wo beides nicht mehr zutreffen kann. Außerdem sind noch die Fälle gekennzeichnet, die vom Erzbistum als plausibel anerkannt worden sind und bei denen man sagen kann, dass es so gewesen ist.
Diese Orte haben wir in dieser Karte dargestellt. Das sind insgesamt 44 Orte, wobei man berücksichtigen muss, dass wir nur die Kommunen benannt haben, wie sie heute existieren. Es gab früher viel mehr Ortschaften. Nehmen wir mal Köln, da gab es zum Beispiel damals Lövenich, was schon seit den 70er Jahren durch die Gebietsreform eingemeindet worden ist. So zählt diese Tat auch zu Köln.
In Köln gibt es mit Sicherheit jede Menge Missbrauchstaten. Aber Köln ist nur ein Mal in der Karte aufgeführt. Genauso wie vielleicht der eine oder andere Ort auch, wo es "nur" eine Missbrauchstat gab. Man soll nur sehen, was alles flächendeckend im ganzen Erzbistum geschah und dass es keine Einzelfälle sind.
DOMRADIO.DE: Wenn man die eigene Gemeinde oder Kommune auf dieser Karte sieht, könnte man vielleicht auch verunsichert sein, weil man nicht weiß, was, wann, wo dort passiert ist, oder?
Otto: Das kann durchaus sein. Man kann mutmaßen, was da gewesen ist. Zumal sich in der Vergangenheit gezeigt hat, dass es in vielen Gemeinden Priester gab, auch hoch angesehene, die es unheimlich gut mit der Jugend konnten, die wie die Weltmeister predigten konnten, bei denen sich später aber herausstellte, dass das Missbrauchstäter waren. Die Verunsicherung wird da sein.
Aber auf der anderen Seite werden vielleicht auch manche Betroffene sehen, dass in ihrer Gegend auch etwas passiert ist und sie sich selbst noch nicht gemeldet haben. Das ermutigt sie vielleicht, sich zu melden und zu sagen, dass es ihnen auch passiert ist. Wie wollen damit auch eine Ermutigung für diejenigen Betroffenen erreichen, die sich bis jetzt noch nicht gemeldet haben.
DOMRADIO.DE: Diese Tatortkarte zu erstellen war nicht einfach, wie Sie erläutert haben. Sie haben die Kooperation mit dem Erzbistum Köln soeben auch als durchaus nicht ganz einfach beschrieben.
Otto: Die Bedenken waren da, dass man vielleicht aus dieser Karte irgendwelche Rückschlüsse auf einzelne Taten ziehen könnte. Aber dadurch, dass wir das total anonymisiert haben und den langen Zeitraum von 1945 bis 2023 gewählt haben, kann man aus einer reinen Ortsnennung überhaupt nichts erkennen.
Das kann eine Tat in den 50er Jahren gewesen sein genauso wie in den 2000er Jahren. Das heißt, niemand kann da irgendwelche Rückschlüsse ziehen. Wir wollen nur sagen, das war sehr, sehr verbreitet.
DOMRADIO.DE: Wenn man in so einer Kommune oder einer Gemeinde wohnt verunsichert ist, kann man sich irgendwo hinwenden, um Genaueres zu erfahren?
Otto: Natürlich könnte man sich an die Interventionsstelle wenden. Aber wenn wir jetzt auf alle Animositäten Rücksicht nehmen, können wir die ganze Missbrauchsaufarbeitung knicken. Es wird immer irgendwelche Leute geben, die nach wie vor hinter dem Pfarrer stehen und sagen, dass das ein toller Mann war. Dass der auch eine dunkle Seite hatte, wollen die gar nicht sehen. Aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Die Aufarbeitung ist notwendig, wichtig und richtig.
DOMRADIO.DE: Was erhoffen Sie sich von dieser Tatortkarte?
Otto: Wir erhoffen uns davon, dass manchen klar wird, das dass keine Einzelfälle waren, wie manche immer noch behaupten, sondern dass es flächendeckend war. Es ist überall gewesen, überall ist mal irgendwas passiert. Das war in dem hintersten Bergischen Land oder in der Eifel oder keine Ahnung wo, aber es ist nicht nur konzentriert auf Köln oder auf spezielle Orte. Nein, es war überall.
Das Interview führte Johannes Schröer.