DOMRADIO.DE: Weltweit hat sich eine Bewegung entwickelt, die die Aufnahme von Eigenrechten der Natur in die jeweiligen Verfassungen fordert. Wie weit ist man denn da in Deutschland?
Prof. Rainer Hagencord (Theologe und Biologe, Leiter des Instituts für Theologische Zoologie e. V. in Münster): Da stehen wir noch am Anfang. Wir haben aber schon einige Erfolgsgeschichten, die sich vor allem in Lateinamerika gezeigt haben.
Im Jahr 1992 hatte zum Beispiel Kolumbien die dortige Verfassung als eine ökologische Verfassung aufgestellt. Im Jahr 2016 folgte daraus, dass dort ein Fluss vor Gericht vertreten wurde und ihm Persönlichkeitsrechte zugesprochen wurden.
Es sollte dort ein Wasserkraftprojekt inszeniert werden und Zyanid abgebaut werden. Die Kläger haben einen Sieg davongetragen. Das heißt, das Gericht hat 13 konkrete Anweisungen an die Regierung zum Schutz des Flusses erlassen.
Interessant ist, dass wir hier eine Rechtsprechung sehen, die auch Folge einer spirituellen Dimension ist. Hier sind es vor allem die indigenen Völker, die sich stark gemacht haben, ihre Natur in dieser Weise zu schützen.
DOMRADIO.DE: Wie sieht das in anderen Ländern aus? Gibt es schon viele, die in diese Richtung denken?
Hagencord: Immer wieder mal. Es gibt dann spektakuläre Dinge, dass auch in Ohio, in den USA, ein Nilpferd als Person anerkannt worden ist. Es ist noch länger her, dass Neuseeland als erstes Land der Welt Menschenrechte für Menschenaffen auf den Weg gebracht hat.
Wir finden sehr viele Beispiele dafür, die wir möglicherweise in Deutschland stark machen müssten. Das ist auch das Ziel einer Tagung zu dem Thema Anfang Februar in Münster.
Denn wir haben ja immerhin im Artikel 20 des Grundgesetzes den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen formuliert. Das wirkt im Grunde flankierend. Wir könnten auch hierzulande schauen, wie wir möglichst schnell dem Artensterben entgegenwirken. Denn wir vernichten ja gerade alle 15 Minuten eine Art weltweit. Deswegen haben wir auch Juristen eingeladen.
Das Artensterben ist dermaßen dramatisch, dass wir jetzt alles in Bewegung setzten müssten, um das zu stoppen.
DOMRADIO.DE: Welche Rechte sollten der Natur aus Ihrer Sicht zugestanden werden?
Hagencord: Wenn es um ein Verfahren geht, wo es um einen Fluss oder auch um einen Berg geht, muss das Gericht andere Parameter heranziehen, als wenn es um Orang Utans, Gorillas oder Nilpferde geht. Für mich ist ganz wichtig, dass wir auf der einen Seite verhaltensbiologische Daten zur Kenntnis nehmen. Das spiegelt sich auch in der Tagung.
Wir schauen mal, ob wir nicht bei fast allen Tieren so etwas wie Bewusstheit, Persönlichkeit und Emotionalität feststellen können, sodass wir von daher diese sehr strikte Grenze "hier der Mensch und da die anderen" aufgrund dieser Daten auflösen müssten.
Das andere ist der Blick in die Ökowissenschaften.
DOMRADIO.DE: Wie sieht der aus?
Hagencord: Ich vermute mal, dass viele den deutschen Förster und Autoren Peter Wohlleben kennen, der in den letzten Jahren auf sehr spektakuläre Weise plausibel gemacht hat, dass auch Bäume Persönlichkeiten sind, da sie in Kommunikation mit Pflanzen, mit Tieren, mit Insekten und mit den Pilzen im Boden stehen. Hier wird indigenes Wissen wissenschaftlich vertieft. Auch ein Baum oder ein Fluss ist kein seelenloser Automat, sondern prägend für die Natur und die Landschaft.
Wir Menschen sind eben nicht das rausgenommene Wesen aus alledem, das ausschließlich über Subjektivität und Rechte verfügt. Vielmehr sind und waren wir immer Teile der Natur, jetzt dann auch noch spirituell und theologisch.
DOMRADIO.DE: Wie können Flüsse, Berge oder Wälder denn den Status einer juristischen Person bekommen? Das ist sicher keine rein juristische Frage. Und warum kann man dann die Natur besser schützen?
Hagencord: Es ist primär eine juristische Frage. Es würde sicher im Konzert der verschiedenen Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität ein starkes Argument dazukommen und ein sehr starker Weg.
Der starke Weg ist ein solcher wie in Kolumbien, wo innerhalb eines Gerichtsurteils sofort oder relativ schnell ein Fluss geschützt werden kann. Die Regierung hat dann alles dafür zu tun, um diesem Gerichtsurteil auch Folge zu leisten. Darum ist dieser Schritt im Konzert all der anderen Schritte wesentlich. Da geht es um Bewusstseinsbildung, da geht es auch in Europa darum, den Beschluss "thirty to thirty" (30 zu 30) umzusetzen.
Im letzten Herbst ist beschlossen worden, 30 Prozent der Lebensräume bis 2030 unter Schutz zu stellen. Es geht darum, dies zu beschleunigen.
DOMRADIO.DE: Was stellen sich für Fragen, wenn man den christlichen Blick darauf richtet?
Hagencord: Wenn wir die biblischen Texte wie die Schöpfungserzählungen, die Predigt Jesu oder die Hioberzählungen einmal sichten und all das mit der Frage heben, wo da die Natur, wo die Tiere vorkommen und wie das Verhältnis der Natur zum Menschen ist und somit auch die Frage des Schöpfers, dann werden drei Linien deutlich.
Erstens finden wir biblisch eine sehr starke Tierethik. Wenn man mal zum Beispiel die zehn Gebote anguckt, dann gilt das Sabbatgebot zum Beispiel auch für Ochsen und Esel. Wir haben hier eine Tierethik in den biblischen Texten verankert, die den Menschen zur Aufgabe gibt, für die anderen zu sorgen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.
Zweitens sind die Tiere Mitgeschöpfe des Menschen. Die Schöpfungserzählungen sagen zum Beispiel, dass die Tiere des Landes und die Menschen geschaffen am sechsten Tag worden sind. Die Tiere sind also auf Augenhöhe, sie sind Partner und Partnerinnen. Auf der Arche Noah sind wir mit ihnen in einer "archischen" und nicht in einer hierarchischen Weise verbunden.
Und drittens kommt den Tieren so etwas wie eine Geheimnishaftigkeit zu. Sie sind Bündnispartner Gottes nach der Flut, sie sind die zuerst Gesegneten der Schöpfung. Das heißt, wir haben eine Trias, die Natur und die Tiere anders zu sehen.
DOMRADIO.DE Was glauben Sie, wie schwierig es werden wird, das Ganze umzusetzen?
Hagencord: Ich bin da guter Hoffnung. Denn die Vorgeschichte ist sehr plausibel. In Europa entwickelt sich gerade im Blick auf den "Green Deal" (Der European Green Deal ist ein von der Europäischen Kommission am 11. Dezember 2019 vorgestelltes Konzept mit dem Ziel, bis 2050 in der Europäischen Union die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null zu reduzieren und somit als erster "Kontinent" klimaneutral zu werden, Anm. d. Red.), der Fahrt aufnehmen muss, eine enorme Dynamik. Das Bewusstsein der Menschen wird stärker. Sowohl das Bewusstsein derer, die mit Tieren leben, also die ihre Hunde und Katzen sehr wohl als Persönlichkeiten wahrnehmen, als auch das Wissen um die Zugehörigkeit von uns in den Ökosystemen.
Dieses Wissen darum und die Erfahrungen darum, werden immer größer. Die gilt es jetzt auch stark zu machen und entsprechend juristisch voranzuschreiten.
Das Interview führte Dagmar Peters.