DOMRADIO.DE: Das neue Ökumene-Dokument ist in einem Kontaktgesprächskreis von Vertretern des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz entstanden. Können Sie etwas zu den Hintergründen sagen?
Prof. Dr. Thomas Söding (Lehrstuhl für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum und Mit-Autor des gemeinsamen Dokuments): Kontaktgesprächskreis klingt etwas bürokratisch, ist aber ganz wichtig. Sowohl die Deutsche Bischofskonferenz als auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland haben starkes Interesse daran, regelmäßig miteinander im Austausch zu sein, ohne dass es jedes Mal auch in der Zeitung steht. Das ist der Kontaktgesprächskreis. Es sind Mitglieder der Bischofskonferenz und es sind Mitglieder des Leitungsgremiums der EKD.
Dieser Kontaktgesprächskreis hatte sich jetzt entschlossen, dass es an der Zeit sei, doch noch einmal in die Öffentlichkeit zu gehen und zu zeigen, was eigentlich in den letzten Jahren in der Ökumene passiert ist. Wohin wollen wir gehen? Dazu ist eine Gruppe von Theologinnen und Theologen beauftragt worden, eine Vorlage zu erstellen. Zu dieser Gruppe gehöre ich, und jetzt hat der Kontaktgesprächskreis diesen Text beschlossen.
DOMRADIO.DE: Im Dokument wird die Wahrung und Vertiefung der Einheit der Kirche in der Vielfalt der Wege und Gaben als neutestamentliches Anliegen bezeichnet. Was ist mit diesem neutestamentlichen Anliegen gemeint?
Söding: In der Ökumene geht es ja nicht darum, dass wir alle im Gleichschritt marschieren. Aber es geht auch darum, dass wir einander nicht aus den Augen verlieren und dass wir das wechselseitige Interesse aneinander nicht verlieren.
Die Gesellschaft hat einen starken Anspruch darauf, dass die Kirchen, wo immer das möglich ist, auch tatsächlich zusammenstehen und mit einer Stimme sprechen; jetzt zum Beispiel in der Verteidigung der Demokratie.
Im Neuen Testament ist es eine große Überraschung – manche würden sagen, ein Wunder –, dass die Aufbruchsbewegung, die von Jesus angestoßen wird und vom Auferweckungsglauben inspiriert ist, nicht zu tausend Splittergruppen geführt hat. Ja, man ist über alle möglichen Grenzen hinaus gegangen. Aber in der Vielfalt der Kulturen, in der Vielfalt der Sprachen, in der Vielfalt der Traditionen wollte man den gemeinsamen Glauben an Gott zusammen bezeugen und in diesem Glauben zusammen bleiben.
Das ist natürlich noch nicht mit zentralistischen Institutionen und Strukturen vorgegeben. Das ist zunächst mal ein ganz starker Austausch über die Grundlagen und über die Aufbrüche des Glaubens. Und das prägt. Man will eine Kirche sein, aber diese eine Kirche besteht aus ganz, ganz vielen verschiedenen Menschen, die jeweils ihre Gaben einbringen.
DOMRADIO.DE: Ein Kapitel in diesem Dokument beschreibt die Chancen einer prozessorientierten Ökumene. Was sind das für Prozesse, an denen sich hier orientiert wird?
Söding: Die Ökumene hat sehr, sehr lange Zeit "nur" – ich karikiere jetzt vielleicht etwas – auf die Ziele geschaut. Da muss man eine doppelte Klarstellung machen: Weder auf katholischer Seite noch auf evangelischer Seite ist so ganz hundertprozentig klar, was man denn eigentlich vor Augen hat, wenn man um die Einheit der Kirche betet.
Jetzt sage ich, dass das vielleicht gar nicht so schlimm ist, weil sich diese Einheitsdefinitionen für diese Zukunftsszenarien ja immer nur von heute her ergeben. Von daher war das Eingeständnis, keine ganz klare abgestimmte Vorstellung zu haben, die man auch miteinander teilen kann, nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke. Die Stärke liegt darin, sich jetzt nicht utopische Ziele zu setzen, sondern das anzuschauen, was tatsächlich vor Ort passiert. Da ist ja sehr viel unterwegs.
Manchmal sagt man, die Theologie hechelt hinterher, aber wir versuchen aufzuholen und aufzuarbeiten und diese Prozesse mit "mehr Sichtbarkeit in der Einheit" und "mehr Versöhnung in der Verschiedenheit" voranzubringen. Das geht in einem ganz breiten Feld: Zeugnis des Glaubens, Dienst des Glaubens, Diakonie, Caritas, Feier des Glaubens. Überall gibt es nicht nichts. Überall geht es in der Ökumene weiter. Und das versuchen wir anzustoßen.
DOMRADIO.DE: Jetzt könnte man natürlich etwas ketzerisch sagen, versöhnte Verschiedenheit heißt, alles bleibt so, wie es ist. Wir mögen uns und unternehmen öfter mal was miteinander. Ist das damit gemeint?
Söding: Es ist damit gemeint, dass man sich auf die jeweiligen Stärken besinnt, dass man aber auch im Blick auf die offenkundig zutage gekommenen Schwächen – Stichwort: Missbrauch – in der katholischen Kirche und in der evangelischen Kirche zusammen schaut und die Erfahrungen austauscht.
In der katholischen Kirche hat man sich ja jetzt inzwischen entschlossen, auf die systemischen Aspekte des Missbrauchs auch eine systemische Antwort zu entwickeln, Stichwort: Synodaler Prozess. In der evangelischen Kirche ist man gerade dabei zu überlegen, ob es nicht auch hier ein Verfassungsproblem gibt und ob man nicht viel klarer die Zuständigkeiten definieren muss. Wir gehen damit in einen Austausch.
Aber dieses Papier ist jetzt nicht alleine Missbrauchsaufarbeitung, sondern ist – wenn man so will – Missbrauchsprävention, weil nämlich ganz sicher ist, dass der Glaubwürdigkeitsverlust, den die Kirchen gegenwärtig zu erleiden haben, mit dieser Missbrauchsthematik zusammenhängt.
Aber es wäre schlecht für die Kirchen und für die Gesellschaft, wenn sie sich ins Mauseloch verkriechen würden. Es ist jetzt wichtig, dass man sich auch auf die gemeinsamen Aufgaben besinnt. Dass das möglich ist, auch wenn es viele Irritationen gab, zeigt dieses Papier.
DOMRADIO.DE: Welche Bewegungsfelder gibt es noch, auf denen die Inhalte dieses Dokuments umgesetzt werden können?
Söding: Der Kontaktgesprächskreis hat sich auch in der Vergangenheit sehr stark mit gesellschaftlichen Themen beschäftigt. Zum Beispiel gab es 2019 eine sehr gute Demokratie-Denkschrift. Das ist aber auch schon fünf Jahre her. Seitdem hat sich unglaublich viel entwickelt.
Sowohl das Zentralkomitee der deutschen Katholiken als auch die Deutsche Bischofskonferenz und jetzt auch die EKD haben gegen antidemokratische und antisemitische Tendenzen, die es leider Gottes in der Gesellschaft gibt, klare Kante gezeigt.
Die Kirchen sind hier gefragt. Dazu müssen sie aber ihre eigenen Hausaufgaben machen. Zu diesen eigenen Hausaufgaben gehört die Lösung der Strukturprobleme, über die wir gerade gesprochen haben, und gehört dann auch, sich ehrlich zu machen, wo man zusammen unterwegs ist, wo es Unterschiede gibt und wie man mit diesen Unterschieden so umgehen kann, dass sie nicht lähmen.
Da sind die Kirchen dann sicherlich nicht nur in gesellschaftspolitischen Fragen gefragt, sondern zunächst einmal in der Seelsorge, in der Verkündigung des Evangeliums, in der Organisation des Religionsunterrichts, wo im Moment sehr viel unterwegs ist, und in dem, was in diesem Papier "liturgische Gastfreundschaft" genannt wird. Das meint nicht das Erfinden von künstlichen neuen Liturgien, sondern die wechselseitige Teilhabe und Anteilhabe. Auch da ist sehr viel passiert. Wir dürfen da nicht nur an Abendmahl und Eucharistie denken, aber natürlich müssen wir auch an Abendmahl und Eucharistie denken.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.