DOMRADIO.DE: Wie bewerten Sie die Rolle von Religion und ethischen Werten in den Wahlprogrammen der großen Parteien? Gibt es signifikante Unterschiede?
Ursula Nothelle-Wildfeuer (Professorin für christliche Gesellschaftslehre): Es gibt tatsächlich Unterschiede. Wenn wir uns die Wahlprogramme anschauen, wird schnell deutlich, dass ein Thema im Blick auf Ihre Frage besonders herausragt: die Religionsfreiheit. Dieses Thema wird zunehmend politisiert und polarisiert, insbesondere durch rechtspopulistische Parteien wie die AfD. Sie haben oft ein sehr reduziertes Verständnis von Religionsfreiheit, die sie auf das Christentum beschränkt sehen möchten. Gleichzeitig lehnen sie beispielsweise die Anerkennung des Islams als einer Religion mit gleichen Rechten innerhalb der deutschen Gesellschaft ab, obwohl Religionsfreiheit natürlich für alle Glaubensrichtungen gilt – genauso wie für Menschen, die keiner Religion angehören. Das ist eine klare Verzerrung des Konzepts der Religionsfreiheit.
Auf der anderen Seite sehen wir bei den demokratischen Parteien der Mitte eine differenziertere Herangehensweise. Die CDU etwa hebt den Schutz religiöser Minderheiten hervor, während die SPD Religionsfreiheit als Beitrag zur gesellschaftlichen Vielfalt versteht und den interreligiösen Dialog fördern möchte. Die FDP legt großen Wert auf die Gleichbehandlung aller Religionen, was auch in ihrem Ansatz zum Religionsunterricht sichtbar wird: Sie fordern, dass allen Glaubensgemeinschaften, einschließlich des Islams, die Möglichkeit gegeben wird, Religionsunterricht anzubieten, solange dies den gesetzlichen Rahmenbedingungen entspricht. Das ist keine neue Forderung, aber eine, die die FDP explizit formuliert.
DOMRADIO.DE: Glauben Sie, dass religiöse Positionen in der Politik an Bedeutung gewinnen oder verlieren?
Nothelle-Wildfeuer: Das ist eine komplexe Frage. Einerseits beobachten wir einen quantitativen Rückgang des Einflusses von Religion auf die bundesrepublikanische Gesellschaft, da Christen nicht mehr die Mehrheit in der Gesellschaft stellen. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Wahrnehmung und das Gewicht religiös begründeter Positionen in der Politik.
Andererseits gibt es eine andere, besorgniserregende Entwicklung: populistische Parteien instrumentalisieren christliche Werte für ihre Zwecke. Sie versuchen, ihre oft diskriminierenden oder ausgrenzenden Positionen mit vermeintlich christlichen Motiven zu untermauern. Das ist nicht nur problematisch, sondern widerspricht auch fundamental dem christlichen Menschenbild. Zwischen diesen Extremen gibt es jedoch ein breites Mittelfeld, in dem christliche Überzeugungen weiterhin die politische Meinungsbildung beeinflussen. Werte wie Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität bleiben wichtige Leitlinien, die – ob bewusst oder unbewusst – in politische Entscheidungen einfließen.
DOMRADIO.DE: Ein weiteres Thema, das immer wieder für Diskussionen sorgt, ist der Schwangerschaftsabbruch und der damit verbundene Paragraf 218. Wie können die Kirchen in dieser Debatte eine Balance finden zwischen dem Schutz des Lebens und der Selbstbestimmung der Frauen?
Nothelle-Wildfeuer: Der Schwangerschaftsabbruch ist und bleibt ein unauflösliches Dilemma. Auf der einen Seite steht der Schutz des ungeborenen Lebens, auf der anderen Seite die Selbstbestimmung der Frauen. Es ist wichtig, diese Spannung anzuerkennen, anstatt sie zu leugnen. Die katholische Kirche hat durch ihren Ausstieg aus der Schwangerenkonfliktberatung vor Jahren an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Das System, das wir heute in Deutschland haben, basiert auf Beratung und Unterstützung – und es ist in vielerlei Hinsicht eine gute Lösung für unsere pluralistische Gesellschaft. Es bietet Frauen Hilfestellung für ihre Entscheidung, ohne sie zu bevormunden, und schafft Rahmenbedingungen, um das Leben des Ungeborenen so gut wie möglich zu schützen .
Die Kirche könnte hier stärker in die gesellschaftliche Debatte einsteigen, indem sie diese Unterstützung ausbaut und den Fokus auf die Schaffung von Rahmenbedingungen legt, mit deren Hilfe Frauen in schwierigen Situationen geholfen werden kann. Ein rein verbotsorientierter Ansatz greift zu kurz und wird dem komplexen Dilemma nicht gerecht.
DOMRADIO.DE: Kommen wir zur Frage des Umgangs mit rechtspopulistischen Strömungen wie der AfD. Wie bewerten Sie die Haltung der Kirchen in diesem Kontext?
Nothelle-Wildfeuer: Die Haltung der Kirche ist hier klar und eindeutig – und das ist gut so. Die Deutsche Bischofskonferenz hat Anfang des Jahres ein wichtiges Papier mit dem Titel "Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar" veröffentlicht. Es zeigt sehr deutlich, wo die fundamentalen Gegensätze zwischen christlichen Werten und rechtspopulistischen Positionen liegen. Rechtspopulisten versuchen oft, christliche Symbole und Werte für ihre Zwecke zu vereinnahmen, doch das ist nichts anderes als eine Verzerrung und Instrumentalisierung des Evangeliums.
Es ist entscheidend, dass die Kirche einerseits klar Position bezieht und keine Plattform für menschenfeindliche Positionen bietet. Gleichzeitig darf sie die Türen für Dialog nicht komplett schließen. Es gibt einen Unterschied zwischen der öffentlichen Unterstützung rechtsextremer Ideologien und der Möglichkeit, mit Menschen im Gespräch zu bleiben, die solche Ansichten vertreten. Diese Gratwanderung ist anspruchsvoll, aber notwendig.
DOMRADIO.DE: Zum Abschluss: Welche Botschaft sollten die Kirchen den Wählerinnen und Wählern für die Bundestagswahl mitgeben?
Nothelle-Wildfeuer: Ich denke, die Kirchen sollten keine Wahlempfehlungen abgeben, sondern vielmehr dazu aufrufen, sich Gedanken über die Werte zu machen, die unsere Gesellschaft prägen sollen. Es geht darum, eine menschenwürdige, gerechte und partizipative Gesellschaft zu fördern. Das christliche Menschenbild, das die Würde jedes Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, kann hier eine Orientierung geben.
Wählerinnen und Wähler sollten sich fragen: Welche Partei trägt am meisten dazu bei, diese Werte umzusetzen? Das bedeutet nicht, dass es nur eine richtige Antwort gibt. Im demokratischen Spektrum gibt es verschiedene Parteien, die unterschiedliche Wege und Konzepte verfolgen, um gemeinsame Werte zu verwirklichen. Die Wahlentscheidung sollte daher gut überlegt und auf einer fundierten Wertebasis getroffen werden.
Das Interview führte Moritz Dege.