"Es herrscht Krieg. Das hätten wir uns niemals vorstellen können. Noch immer bin ich fassungslos und begreife nicht, wie es dazu kommen konnte." Anna Schürholz befindet sich seit über vier Wochen, wie sie selbst zugibt, in einem emotionalen Ausnahmezustand.
"Eigentlich funktioniere ich nur noch und lebe gerade innerlich in einer Parallelwelt." Sie könne sich nicht erinnern, je so viel geweint zu haben wie in den letzten Tagen", sagt die 34-Jährige und wiederholt noch einmal sichtlich bewegt: "Am 24. Februar sind wir im Krieg aufgewacht. Um 4.30 Uhr hatte ich die ersten verzweifelten Anrufe von Familienangehörigen aus der Ukraine auf meinem Handy. Später auch Fotos von den Raketeneinschüssen. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Das war außerhalb meines Denkens, dass unser Brudervolk uns angreift." Im Mark habe sie der Schrei ihrer Cousine "Sie bombardieren uns!" im über 2000 Kilometer entfernten Charkiw getroffen.
Die Mutter von zwei kleinen Kindern, die seit ihrem 15. Lebensjahr in Köln lebt, am Mülheimer Genoveva-Gymnasium ihr Abitur gemacht, später an der Uni Wirtschaft studiert hat und heute als Berufsschullehrerin in Düren arbeitet, hat kaum Worte für das, was sie gerade durchmacht. Für die unerträgliche Grausamkeit dessen, was sich seit Wochen an der russisch-ukrainischen Grenze im Osten Europas abspielt, gibt es ja auch keine Sprache. Begriffe wie Bombe, Luftabwehrraketen und Panzer stammen aus einem Vokabular, das die Staaten Europas zuletzt im Zweiten Weltkrieg gebraucht haben.
Bilder von gegenwärtigen Truppenaufmärsche oder Unmengen vertriebener Menschen beim Versuch, ihr Leben zu retten, im Fernsehen mitzuverfolgen oder ansehen zu müssen, wie sie mit Kindern und Säuglingen notdürftig Schutz in Kellern und U-Bahn-Schächten suchen, scheinen irreal. Und doch zeigen sie, dass sich Geschichte auf erschreckende Weise wiederholt. "Noch immer stehen wir völlig unter Schock", kommentiert Anna Schürholz dazu, die einen Großteil ihrer Familie und viele Freunde in der Ukraine hat.
Anzeichen eines drohenden Einmarsches verdrängt
1987 wurde sie als Kind eines ukrainischen Vaters und einer russland-deutschen Mutter in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, geboren. Kurz darauf siedelt sich die Familie in der ukrainischen Heimat des Vaters, in Charkiw an, wo der 59-Jährige noch heute als Chefarzt einer Frauen- und Geburtsklinik tätig ist und im Moment unter Lebensgefahr seinen Dienst verrichtet, während die Mutter bereits 2002 mit ihrer 15-jährigen Tochter nach Deutschland ausgereist ist. Hier wollen die beiden dauerhaft Fuß fassen. Die Muttersprache der jungen Frau ist Russisch. "Trotzdem schlägt mein Herz für die Ukraine. Ihr fühle ich mich zugehörig. Dieses Land ist meine Heimat, selbst wenn ich Ukrainisch in meiner Kindheit als Fremdsprache erlernt habe und mir das Russische immer näher war."
Nach über vier Wochen Krieg weiß sie, dass sie die Anzeichen eines drohenden Einmarsches der Russen verdrängt hat und sie – wie so viele andere auch – nicht wahrhaben wollte, dass das Unvorstellbare geschehen könnte. "An so etwas ist ja auch schwer zu glauben, wenn man nichts anderes als den Frieden kennt und in einem demokratischen Land lebt. Man will und kann es nicht fassen, dass jemand die Zivilbevölkerung angreift, Frauen, Kinder und alte Menschen einen sinnlosen Tod sterben und das als Kollateralschaden betrachtet wird", erklärt sie ihre eigenen Gefühle. Trotzdem wolle sie sich politisch nicht positionieren. "Dafür ist die Lage viel zu kompliziert, um sie in zwei Sätzen zu erklären." Nur eines vertritt Anna Schürholz vehement: "Kein politischer Konflikt rechtfertigt den Übergriff auf ein anderes Land, seine gewaltsame Einnahme und das kalkulierte Sterben so vieler unschuldiger Menschen. Wo bleibt da die Menschlichkeit?"
Inzwischen weigert sie sich, ihre Informationen allein über die staatlichen Nachrichtensendungen zu beziehen. "Jeder hat seine Wahrheit. Zuviel Propaganda – auf beiden Seiten", argumentiert die Pädagogin mit russischem und ukrainischem Pass. Ihre Sprachkenntnisse ermöglichen ihr, sich unterschiedlicher Quellen zu bedienen und vor allem viel auf das zu geben, was ihr unmittelbare Augenzeugen täglich aus den betroffenen Gebieten berichten. "Die Lage ist grundsätzlich total unübersichtlich. Wenn man bedenkt, dass jeder, der wollte, eine Waffe in die Hand bekommen hat, frage ich mich, wohin das führen soll und was das mit den Menschen macht, die gestern noch ein normales Leben geführt haben, zur Arbeit gingen und ihre Kinder in die Schule gebracht haben."
Einzig beruhigend sei in dieser aufgeheizten Situation, dass sich die meisten Verwandten unmittelbar nach den Angriffen auf Charkiw, das inzwischen in Trümmern liegt, aufs Land flüchten konnten, zumal sich die militärischen Angriffe weitgehend auf die Städte konzentrierten. Doch diese Sicherheit sei relativ, so Schürholz, zumal die Versorgungslage inzwischen auch auf den Dörfern schlecht sei. "Viele Menschen versuchen, sich hierher zu retten, um zu überleben. Andere – wie meine Halbbrüder – haben die Flucht in Evakuierungszügen über Polen nach Deutschland riskiert. Aber es gibt viele – dazu gehören meine Großeltern – die können oder wollen nicht fliehen. Sie sagen: Lieber in der Ukraine sterben, als die Heimat verlassen."
Doch den Gedanken, Oma und Opa, bei denen sie ihre Kindheit und so oft die Ferien verbracht habe, in diesem Krieg zu verlieren, könne sie gar nicht an sich heranlassen. Er breche ihr das Herz. Ob es je ein Wiedersehen gebe, sei völlig ungewiss. Auch die Vorstellung, dass ihr Cousin – ebenfalls Arzt – und ihr Vater unter täglichem Beschuss in den Klinikbunker zur Arbeit müssten, sorge für anhaltende Angst und schlaflose Nächte. Wie befreiend sei dann immer wieder die Nachricht aus Charkiw: "Wir leben noch. Wir halten durch. Alles ist gut."
Manchmal – mitten in diesem Gefühlschaos – schließe sie die Augen. "Dann stelle ich mir vor, Charkiw ist noch heil und alles war nur ein böser Traum." Vor ihrem geistigen Auge habe sie in solchen Momenten die Bilder ihres letzten Sommerurlaubs, als die Stimmung noch völlig ungetrübt war, sie mit einer Freundin in dem Einkaufszentrum, das es mittlerweile nicht mehr gibt, geshoppt habe. "Wir haben Selfies gemacht, Cocktails getrunken und sind unbeschwert durch die Stadt gelaufen. Diese Sneakers", zeigt sie mit Tränen in den Augen auf ihre Füße, "sind aus Charkiw. Nun aber ist die Gegend nicht wiederzuerkennen, alles Vertraute dem Erdboden gleich gemacht." Die Tickets für ihre nächste Reise im April hatte sie schon Anfang des Jahres gekauft. "Ostern wollten wir mit der ganzen Familie zuhause in der Ukraine feiern."
Aus dieser Vorfreude sind angesichts der verheerenden Lage in weiten Teilen der Ost- und Südukraine Machtlosigkeit, Wut und Trauer geworden. "Das wechselt stündlich und ist furchtbar anstrengend", erklärt Schürholz, die inzwischen zu einer Art Drehscheibe für ihre Landsleute geworden ist – nicht zuletzt weil sie selbst die drei Sprachen Ukrainisch, Russisch und Deutsch fließend spricht, aber Deutschland eben auch für die meisten Geflüchteten das Land ist, in dem sie sich eine Zukunft – wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum – vorstellen können. Gleich bei Ausbruch des Krieges hat Anna Schürholz die Eltern von Freunden, die sich umgehend zur Flucht entschlossen hatten, bei sich aufgenommen, später für sie eine Unterkunft über das Kölner Wohnungsamt gefunden.
Das Handy steht nicht mehr still
Das hat sich herumgesprochen, mittlerweile eine Eigendynamik entwickelt. Denn täglich werden es mehr, die sich hilfesuchend an die junge Familienmutter wenden, weil sie die Unterbringung in Sammelunterkünften fürchten. In der Zwischenzeit hat diese schon rund 30 Frauen mit ihren Kindern oder auch ganze Familien an Bekannte vermittelt, die sich zur Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge bereit erklärt haben. Und das Handy steht nicht mehr still. Dabei ist der Kölnerin mit russisch-ukrainischen Wurzeln wichtig, sowohl zu den Geflüchteten als auch zu den Aufnahmewilligen eine persönliche Beziehung zu haben, um für jeden auch bürgen zu können. "Schließlich übernehme ich hier Verantwortung", betont sie. "Trotzdem ist das meine Antwort auf das, was gerade geschieht. Ich musste einfach etwas tun."
Sie sei gegen den Krieg und für die Menschen. Sonst aber stehe sie auf keiner Seite, unterstreicht Schürholz. Vielmehr fühle sie sich zerrissen. "Alles, was im Rahmen meiner Möglichkeiten ist, trage ich bei – rein privat. Inzwischen bin ich für alle, die ich bisher in private Unterkünfte vermitteln konnte, die Mutter, die sich auch angesichts der vielen notwendigen Behördengänge kümmert. Ich organisiere Sachspenden wie Kinderwagen und Babynahrung, begleite zu Ämtern, telefoniere mit Schulen oder berate am Telefon."
Dabei, sagt Schürholz, müsse man sich immer wieder klar machen: "Niemand ist freiwillig hier. Das sind auch keine Touristen, die eine Städtetour machen oder denen eine schöne Unterbringung imponiert. Niemand hat sich das so ausgesucht. Hier darf man als Gastgeber nicht zuviel erwarten." Die meisten stünden völlig unter Schock, seien traumatisiert und kämen mit ein paar Supermarkt-Tüten am Bahnhof an. "Dabei hatten sie vorher tolle Jobs, schöne Häuser und Lebensqualität – genauso wie wir. Jetzt aber stehen sie vor den Trümmern ihrer Existenz und besitzen nur noch, was sie am Leib tragen, und mussten Väter, Brüder und Söhne zurücklassen. Das zerreißt einem das Herz. Denn nichts wünschen sich diese Menschen sehnlicher zurück als ihr altes Leben."