DOMRADIO.DE: Warum beginnt das Heilige Jahr noch im alten Kalenderjahr, in diesem Fall an Heiligabend?
Ulrich Nersinger (Vatikanexperte und Buchautor): Es beginnt an Heiligabend, weil dort ein altes Ritual durchgeführt wird: die Öffnung der Heiligen Pforte. Die Heilige Pforte ist seit vielen Jahrhunderten untrennbar mit der Feier der Heiligen Jahre verknüpft.
DOMRADIO.DE: Dann gehen wir mal weiter zurück in der Geschichte. Seit wann wird denn eine Heilige Pforte geöffnet?
Nersinger: Wir können das genau an einem Datum festmachen. Es begann am 24. Dezember 1499, in der Regierungszeit von Papst Alexander VI.
DOMRADIO.DE: Und was bedeutete das damals?
Nersinger: Papst Alexander VI. hat mit seinem Zeremonienmeister Jacob Burckhardt zusammen dieses Ritual der Öffnung und später auch der Schließung der Heiligen Pforte entwickelt.
Er wollte zeigen, dass die Heilige Pforte für die Barmherzigkeit Gottes steht, die für alle weit geöffnet ist. Im Durchschreiten einer Heiligen Pforte empfand man Erbarmen, Verzeihung von Schuld und vor allen Dingen den Zuspruch zu einer neuen Wirklichkeit.
Papst Alexander VI., der ja so gescholten wird, der aber doch in allen religiösen Ansichten ein frommer Papst war - seinen moralischen Lebenswandel zum Trotz - hat gesagt: "Das Durchschreiten der Pforte ist die Einladung in den Schafstall, in die Herde Christi einzutreten, dessen erster Wächter und Hirte Wir sind." Das ist ein sehr schöner Gedanke.
Und er hat dann ein Wort des Propheten Jesaja aufgegriffen, das er dann auf den Papst bezieht: "Wenn er öffnet, wird niemand schließen, und wenn er schließt, wird niemand öffnen". Und dann wird das Durchschreiten der Heiligen Pforte später auch sehr stark mit dem Ablass verbunden, aber das ist nur ein Gedanke.
DOMRADIO.DE: Wie war das Prozedere damals?
Nersinger: Damals waren die Heiligen Pforten - in Sankt Peter und später dann auch in den anderen Basiliken Roms - vermauert, und man hat dann in sehr eindrucksvollen Zeremonien diese Pforten geöffnet, indem man wirklich die Mauer niederriss.
Schon bei der ersten Öffnung einer Heiligen Pforte ist ein Zwischenfall passiert, der aber auch wieder vieles sehr schön vermittelt. Es war unter Strafe der Exkommunikation, sogar der Todesstrafe, verboten, dass jemand vor dem Papst durch die niedergerissene Pforte schreitet. Damals kam es aber zu einem kleinen Unfall: Etwas stürzte vom Gemäuer ab und ein Mitarbeiter der Dombauhütte schritt durch die Pforte, um es zu verhindern. Damit war hatte er eigentlich ein Vergehen begangen, aber der Papst war sehr einsichtig und hat gesagt, das ist eher eine Wohltat, die der Mann gemacht hat. Und einige Quellen berichten sogar, dass er eine päpstliche Auszeichnung bekommen hat.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus hat Heiligabend gleich zwei Heilige Pforten aufgeschlossen: im Petersdom und in einem Gefängnis. Warum werden denn mehrere Türen geöffnet?
Nersinger: Ursprünglich hat man die vier Erzbasiliken -also Sankt Peter, Sankt Johannes im Lateran, Santa Maria Maggiore und Sankt Paul vor den Mauern- mit Heiligen Pforten versehen. Aber Papst Franziskus hat auch an anderen besonderen Orten, die der Barmherzigkeit Gottes bedürfen, Pforten einrichten lassen. Im vergangenen Heiligen Jahr hat er in der Caritas an der Station Termini eine Pforte eingerichtet, in diesem Jahr im römischen Gefängnis Rebibbia.
DOMRADIO.DE: Hat sich dadurch an der Bedeutung der Pforten im Laufe der Jahre etwas verändert?
Nersinger: Ich denke nicht. Vielleicht sind Akzente anders gesetzt worden. Der Papst hat bei der Öffnung einer außergewöhnlichen Pforte gesagt: "Wenn wir die Heilige Pforte durchschreiten, lassen wir uns umarmen von der Barmherzigkeit Gottes und verpflichten uns, barmherzig zu unseren Mitmenschen zu sein, so wie es der Vater zu uns ist." Ein sehr schöner Gedanke meines Erachtens.
DOMRADIO.DE: Und wenige Tage nach dem Papst Franziskus in Rom das Heilige Jahr eröffnet hatte, folgte zum Beispiel die Heilig-Jahr-Eröffnung im Erzbistum Paderborn.
Nersinger: Im vergangenen Jahr hat der Papst auch die Erlaubnis erteilt, Pforten der Kathedralen in den Bistümern oder der Mit-Kathedralen, die es in einer Diözese gab, zu öffnen. Das ist jetzt nicht mehr so, sondern der Papst will das doch auf Rom konzentrieren.
Die Feier der Heiligen Jahre soll auch in den Diözesen begonnen und gefeiert werden. Das Ganze ist schon ein universales Ereignis, aber es konzentriert sich auf Rom, die Ewige Stadt.
DOMRADIO.DE: Kommt dann das nächste Heilige Jahr 2050. Können wir uns darauf einstellen?
Nersinger: Ja, es kann natürlich sein, dass Papst Franziskus, so wie es auch seine Vorgänger gemacht haben, aus bestimmten Gründen oder Anlässen ein außerordentliches Heiliges Jahr einberuft (etwa anlässlich der Corona-Pandemie, Anm. d. Red.).
Das hat man immer zu bestimmten Anlässen gemacht, im vergangenen Jahrhundert etwa zum Jahrestag der Geburt Christi. 1933, um zu zeigen, dass Christus das Zeichen der Hoffnung des Lebens ist und nicht die damaligen Diktaturen, der Faschismus, der Nationalsozialismus und der Kommunismus.
Das Interview führte Carsten Döpp.