DOMRADIO.DE: Wir erreichen Sie in Abu Dhabi, das wie Katar auf der Arabischen Halbinsel liegt, in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Sie sind dort Vikar an der Saint Joseph Church. Wie viele Katholiken leben denn überhaupt in den Emiraten?
Matthias Renggli (Schweizer Vikar an der Saint Joseph Church in Abu Dhabi): Schätzungsweise sind es hier in den Vereinigten Arabischen Emiraten zwischen 800.000 und einer Million, etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei uns in der Pfarrei St. Joseph gehen wir von bis zu 100.000 Katholiken aus. Insgesamt macht die christliche Minderheit hier in den Emiraten etwa 12 bis 13 Prozent aus und unter den Christen sind die Katholiken klar in der Mehrheit.
DOMRADIO.DE: Woher kommen denn diese Katholikinnen und Katholiken?
Renggli: Etwa 95 Prozent von ihnen kommen aus dem asiatischen Raum, vor allem aus Indien und den Philippinen. Insgesamt sind wir aber eine bunt gemischte Gemeinschaft aus europäisch und amerikanisch geprägten Katholiken, aber zum Beispiel auch aus Südafrika, eigentlich aus der ganzen Welt. Alle, die hier katholisch sind, sind "Expats", haben also ihre Heimat verlassen haben, um hier zu arbeiten. Oft ist auch die Rede von Arbeitsmigranten, aber ich spreche lieber von "Expats".
DOMRADIO.DE: Der Islam ist Staatsreligion in den VAE, genauso wie in Katar. Was bedeutet das für die Christen? Wie frei können sie ihren Glauben leben in diesen muslimisch geprägten Staaten?
Renggli: Wer hier ankommt, hat vielleicht zunächst den Eindruck, dass es viele Hemmnisse und Hindernisse gibt. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich hier als Priester eine größere Redefreiheit habe als zu Hause in der Schweiz.
Hier ist es unsere Sache, was wir als Katholiken in der Kirche machen. Der Staat schreibt uns nicht vor, was zu gelten hat, was wir zu sagen haben, welche Genderideologien wir zu befolgen haben oder nicht. Wir sind wirklich frei.
Ich würde sogar sagen, dass auf diesen muslimischen Boden das Christentum blüht, um es mal knackig und geradeheraus zu formulieren.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Ihre Kirchen sind auch von außen als solche erkennbar, dürfen zum Beispiel Kreuze anbringen?
Renggli: Absolut. Hier in Abu Dhabi steht zum einen unsere Kathedrale. Anlässlich des Papstbesuches 2019 hat der Staat sogar mit dem Bau einer neuen Kirche begonnen, sie hat ein Kreuz und eine Glocke und soll im Februar eingeweiht werden. Sie ist Teil des interreligiösen Projektes "Das abrahamitische Haus", wo sich eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche vis-à-vis stehen. Das ist ganz spannend, dass der Staat viel Geld in die Hand genommen hat, eine eigene Kirche gebaut hat und sie Papst Franziskus schenken will.
Ich bin gespannt, wie es sich anfühlen wird, in dieser Kirche zu stehen. Die Bilder sehen super aus, und ich freue mich auch auf die Glocken. Denn im Februar sollen dort zum ersten Mal hier in Abu Dhabi Kirchenglocken zu hören sein. In Dubai gibt es schon eine katholische Kirche mit Glocken.
Natürlich ist uns als Christen bewusst, dass wir hier Gäste in einem muslimischen Land sind. Aber als solche werden wir toleriert und dürfen unseren Glauben frei ausleben, solange wir nicht lokale Muslime bekehren. Evangelisierung unter den Einheimischen wird nicht gerne gesehen. Aber was wir als Christen machen, wie wir uns organisieren, darin sind wir ziemlich frei.
DOMRADIO.DE: So beschreiben Sie die Situation der Christen in den VAE. Wenn wir jetzt auf Katar blicken, wie schätzen Sie die Situation dort ein. Ist sie vergleichbar?
Renggli: Ich wurde von Bischof Paul Hinder, dem Apostolischen Administrator des Vikariats Nördliches Arabien, für alle deutschsprachigen "Expats" eingesetzt. Das heißt, ich bin als deutschsprachiger Seelsorger auch für Katar Ansprechperson. Ich weiß, dass die Situation von Christen in Katar etwas anders ist. Dort leben zum Beispiel nur 200.000 Katholiken, also nur etwa ein Fünftel der Katholikenzahl in den VAE.
Soviel ich weiß, können Christen auch dort ihren Glauben relativ ungehindert praktizieren - so ähnlich wie hier in den VAE. Es ist in Katar wohl ziemlich aufwendig, als Priester ein Visum zu bekommen. Dort wird genau geschaut, wie viele Priester auf wie viele Gläubige kommen.
Hier in den Emiraten ist das dagegen einfach. Ich zum Beispiel habe innerhalb von 30 Tagen meine Arbeitsbewilligung für drei Jahre bekommen und auf der Identitätskarte steht sogar "Priest". In Katar ist das ein bisschen schwieriger, aber nicht unmöglich. Ich bin erst seit zehn Monaten hier und konnte Katar leider noch nicht persönlich besuchen. Aber was ich bisher gehört habe, ist, dass auch dort die Kirchen blühen, dass auch dort das Christentum vor Kraft nur so strotzt.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie denn die besonderen Herausforderungen für die christlichen und insbesondere die katholische Kirche in der Region?
Renggli: Wir brauchen mehr Platz. Es ist unglaublich, was hier an einem Sonntag abgeht. Am letzten Sonntag hatte ich über 1.500 Personen in einer Messe. Wir haben an Weihnachten etwa 21 Eucharistiefeiern. Und vor Covid hatten wir pro Sonntag 25.000 praktizierende Katholiken.
Außerdem sehe ich den interreligiösen Dialog als schöne Chance. Das ist hier wirklich ein Schmelztiegel von Kulturen. Viele Leute, die herkommen, wollen gar nicht mehr weg. Vielen "Expats" geht es hier besser als zu Hause. Viele sagen: "Hier muss nur einer von uns arbeiten und wir können uns einen höheren Lebensstandard leisten als in Österreich oder Deutschland."
Es ist spannend, wie viele Chancen gerade die VAE bieten. Auch dass Menschen sagen "Hier bin ich zu Hause".
Es gibt auch die Kehrseite, also Menschen, die hier unter schwierigen Bedingungen leben. Für uns ist es sicher eine Herausforderung, auch dieser Armut ein Gesicht zu geben. Andererseits sollten wir die Chance zu nutzen, in diesen interreligiösen Dialog hineinzugehen und unseren Beitrag zu leisten. Ich erlebe hier eine friedliche Koexistenz.
In diesem Sinne hat Papst Franziskus 2019 bei seinem Besuch ja das Dokument der universellen Geschwisterlichkeit unterzeichnet: Man muss sich nicht gegenseitig bekehren. Aber man kann sich gegenseitig bereichern.
Zum Beispiel gibt es während des Ramadans interreligiöse Projekte, wo Rabbis, Imame, katholische Priester und evangelische Pastoren gemeinsam Essenspakete verteilen. Es gibt viele solcher spannenden Momente, wo man wirklich merkt, da ist etwas lebendig. Ich wünsche mir, dass wir als Kirche in dieser Region diese Chance wahrnehmen und mit Freude auch Zeugnis geben.
DOMRADIO.DE: Haben Sie denn tatsächlich den Eindruck, dass islamische Vertreter Ihnen da auf Augenhöhe begegnen?
Renggli: In den zehn Monaten, in denen ich jetzt hier bin, habe ich das so erlebt. Im öffentlichen Raum stößt es überhaupt nicht auf Ablehnung, wenn man sich als Priester erkennbar kleidet, sondern es ist sogar gewünscht. Wir werden als Kirchenvertreter auch bei vielen lokalen Anlässen gern gesehen.
Vor kurzem hat hier in Abu Dhabi eine Apostolische Nuntiatur eröffnet, weil die Emirate diplomatische Beziehungen mit dem Vatikan aufgenommen haben. Da geschieht wirklich etwas, da geht etwas vorwärts und es ist schön, als Seelsorger dabei zu sein.
DOMRADIO.DE: Am Wochenende fängt die Fußball-WM an, begleitet von viel Kritik. Wie blicken Sie als katholischer Seelsorger in der unmittelbaren Nachbarschaft dem Großevent entgegen?
Renggli: Kritik kommt vor allem aus dem europäischen Raum. Ich bin hier für viele Menschen verantwortlich und die freuen sich alle, dass die WM kommt. Über die Genese dieser WM kann man sicher geteilter Meinung sein.
Ich persönlich würde aber auch Kritik am Westen üben, der selbst dabei ist, seine Werte zu verlieren und gleichzeitig meint, auf wunde Punkte hier zeigen zu müssen. Mir kommt diese Kritik ein bisschen scheinheilig vor. Teilweise ist sie auch berechtigt, gerade wenn es um Menschenrechte geht, teile ich sie. Aber ich finde, bevor ich mit dem Finger auf jemand anderen zeige, sollte ich schauen, wo ich selbst stehe. Ich möchte dieser WM wirklich eine Chance geben
Ich sehe es so wie Ex-FIFA-Präsident Sepp Blatter, der gesagt hat: "Wir gehen zu Arabern, wir gehen zu den Muslimen, das ist eine Riesenchance." Der Fußball verbindet uns doch. Genauso wie wir hier auch im Religiösen versuchen, mehr das Verbindende zu betonen. Ich halt es durchaus für richtig, die Lage der Menschenrechte und auch die Arbeitsbedingungen mancher Gruppen zu kritisieren. Aber wir sollten auch nicht vor lauter Kritik und Nörgelei an den Chancen vorbeigehen.
DOMRADIO.DE: Finden Sie es denn nicht schwierig, dass die WM jetzt in die Adventszeit fällt? Die soll doch für Christen, die den Advent ernst nehmen, eine Zeit der Besinnung sein....
Renggli: Die WM wurde ja wegen der klimatischen Bedingungen in diese Zeit gelegt. Da haben die Verantwortlichen einen Schritt auf die Arabische Welt zugetan. Im Sommer hier eine WM zu veranstalten, wäre ja Selbstmord. Bei Temperaturen von 55 Grad könnten Spiele nur in geschlossenen Hallen stattfinden. Also ist die Verlegung in den Winter ein Zugeständnis.
Ich persönlich werde als Katholik den Advent durchaus als Zeit der Besinnung begehen. Aber ich finde nicht, dass sich das beißt. Ich kann mir sowohl Zeiten des Gebets reservieren, als auch Fußballmatches schauen. Ich gehöre nicht zu denen, die unbedingt jedes Spiel schauen. Aber wenn die Schweiz spielt, bin ich sicher dabei. Weil die wohl meist spätabends spielen, könnte das für mich als Priester herausfordernd werden. Da gibt es bestimmt schlaflose Nächte.
Aber ich persönlich finde das nicht störend. In der Adventszeit ist es ist ja tatsächlich dem Einzelnen überlassen, wie er oder sie diese Zeit gestaltet. Es gibt auch keine Vorgabe der Kirche, es ist eine Frage der Priorität: Was ist mir persönlich wichtig?
Wir haben in der Pfarrei darüber nachgedacht, die Spiele zu streamen und uns am Ende dagegen entschieden, weil gerade erst die Corona-Beschränkungen gelockert worden sind. Sonst wäre das ein kostenloses Event geworden, zu dem wir alle Gläubigen eingeladen und Gemeinschaft gepflegt hätten.
DOMRADIO.DE: Sie teilen die Kritik an der WM in vielen Punkten nicht, aber in Sachen Menschenrechte sehen auch Sie durchaus Luft nach oben. Glauben Sie, dass das öffentliche Interesse da tatsächlich etwas zum Besseren bewegen könnte?
Renggli: Das ist schwierig zu beurteilen. Im großen Hype schaut die Welt genauer auf die Region. Ich erhoffe mir schon, dass das auch eine Verbesserung der Menschenrechtslage mit sich bringt. Gerade mit Blick auf die Menschenrechte zeigt meine Erfahrung aber auch, dass viele Arbeitsmigranten und "Expats" sagen: "Zu Hause geht es uns schlechter als hier."
Was viele also als Verbesserung ihrer Lebensqualität beschreiben, ist aus europäischer Perspektive moderne Sklaverei. Wir müssen das in der Gesamtheit sehen. Die arabischen Länder ermöglichen vielen Menschen einen Aufstieg. Vor unserem kulturellen Hintergrund erscheint uns hier manches himmelschreiend. Ich bin klar dafür, an unsere Idealen festzuhalten. Dafür haben wir in Europa gekämpft, das ist eine Kulturleistung und wir können auch versuchen, diese Ideale in die Welt zu tragen.
Aber wir müssen gleichzeitig unserem Gegenüber zuhören, was dem Gegenüber wichtig ist. Dialog heißt ja nicht "Ich habe recht." Dialog heißt: "Ich gehe in einen Diskurs." Es geht also um gemeinsames Lernen und das ist in meinen Augen die Herausforderung.
Und so wünsche ich mir bei aller Kritik an der FIFA und am Zustandekommen dieser WM, dass sie eben nicht nur einen Hype mit sich bringt, sondern echte Begegnungen. Ich wünsche mir auch für die Fans, die anreisen, dass sie in der Begegnung mit dem Islam wieder merken: "Ich bin doch getauft. Was heißt das eigentlich?" In diesem Sinne könnte die WM vielleicht sogar ihren Teil dazu beitragen, dass auch der Glaube bei uns in Europa gestärkt wird.
Das Interview führte Hilde Regeniter.