Bechara Boutros Rai trat in große Fußstapfen, als er im März 2011 als Nachfolger des hoch angesehenen Patriarchen Nasrallah Sfeir (1920-2019) zum Oberhaupt der maronitischen Kirche gewählt wurde.
Selbstbewusst definierte sich der damalige Bischof von Jbeil/Byblos in seinem Regierungsprogramm als "geistiger Vater aller Libanesen" und Patriarch aller Christen des Orients. Die libanesischen Christen zu einen, trat der heute 81-jährige Kardinal an. Zehn Jahre später ist der Kirchenmann politischer denn je - und das Land tief gespalten.
Politiker gehen bei Rai ein und aus
Im Kampf für seine Vorstellung vom Libanon spart Rai nicht mit Worten. Das Land möge sich heraushalten aus regionalen Konflikten und internationalen Allianzen, mahnte er in den vergangenen Monaten wieder und wieder. Er fordert eine aktive Neutralität - und mischt sich dabei immer lauter ein in die Politik. Ob via Twitter, Facebook, Instagram oder traditionell im christlichen Sender "Noursat": Mehrmals täglich, manchmal stündlich, sendet Rai seine Botschaften.
Führende Politiker gehen in Bkerke ein und aus, Rais Amtssitz nördlich von Beirut.
Ende Februar hatten sich dort Tausende Menschen versammelt. Ihre Unterstützung galt dem Kirchenführer und dessen Forderung nach einer internationalen UN-Konferenz über das Schicksal des schwer angeschlagenen Landes. Auch Kritik an der Hisbollah schien zuletzt immer weniger versteckt in Rais Predigten durch. "Es gibt keine zwei Staaten in einem Land, zwei Armeen in einem Land." Gemeint war: eine reguläre und eine der Hisbollah.
Kehrtwende in der Haltung
Eine Kehrtwende in der Haltung eines einst in der Nähe der Macht befindlichen Patriarchen hin zum volksnahen Kirchenführer machte die französischsprachige Zeitung "Orient le Jour" Anfang März angesichts von Rais Äußerungen aus. Seit Oktober 2019 habe sich der Kardinal dem Aufschrei des Volkes gegen Korruption und Klientelpolitik angeschlossen.
"Trotz der Gefahren von Corona" seien sie gekommen, um die Rettung des Libanon zu erbitten, dankte Rai seinen Unterstützern. Er verstehe die Wut, Aufstand und Revolution und rufe die Versammelten auf, angesichts von Korruption, Versagen der politischen Eliten und vielen anderen Problemen des Landes nicht zu schweigen. Die Abkehr von einer Politik der Neutralität sei die Quelle allen Übels im Land - und die Essenz eines unabhängigen Libanon sei eben jene Neutralität. Einen Staat auf Basis von Bürgerschaft, nicht Religion, und mit kulturellem und religiösem Pluralismus forderte Rai. Die christlich-islamische Partnerschaft sei unantastbar und die Demokratie irreversibel.
Mit seiner Rede sei Rai unbestreitbar in der Lage, die Führung der Christen zu übernehmen, resümiert "Orient le Jour" mehrere Experten.
Direkte Konkurrenz zu Staatspräsident Aoun
Damit stehe er in direkter Konkurrenz zu Staatspräsident Michel Aoun - ebenfalls ein Maronit. Die mit Rom verbundene Ostkirche stellt als größte christliche Gemeinschaft nach einer Übereinkunft bei der libanesischen Unabhängigkeit 1943 stets den Staatspräsidenten.
Eine Abkehr von einer Unterstützung Aouns sehen auch Experten etwa des Beiruter Think Tanks "Carnegie Middle East Center" in den jüngsten Äußerungen des Kardinal-Patriarchen. Beobachter in libanesischen Medien bewerten Rais Einsatz freilich als gefährlich.
Die politischen Gräben des ohnehin gespaltenen Landes könnten sich zusätzlich vertiefen, befürchtet etwa die Zeitung "Daily Star" (28. Februar). Die Regierungsbildung - zu deren rascher Vollendung der Patriarch immer wieder aufrief - seien überschattet von den Forderungen des Kirchenmanns.
Die Freie Patriotische Bewegung (CPL) scheint bislang die einzige christliche Partei zu sein, die sich nicht explizit hinter Rai stellt. Traditionell pflegt die Partei Aouns gute Beziehungen zur schiitischen Hisbollah, die wiederum die Vorschläge des Patriarchen zurückwies. Rai habe seine eigenen Vorstellungen von Lösungen für den Libanon, erklärte Hisbollah-Abgeordneter Hasan Fadlallah laut Medien.
Aus Sicht der Hisbollah seien sie aber eher "eine Komplikation des Problems".