Vor 150 Jahren führte Verdi erstmals sein Requiem auf

"Tongemälde mit intensivsten Farben"

Als Komponist zahlreicher Opern hat Giuseppe Verdi Höhen und Tiefen menschlicher Schicksale musikalisch in Szene gesetzt. In seinem Requiem widmete er sich 1874 dem Schicksal des Todes und der Hoffnung auf Erlösung.

Autor/in:
Roland Juchem
Symbolbild Requiem von Giuseppe Verdi / © godongphoto (shutterstock)
Symbolbild Requiem von Giuseppe Verdi / © godongphoto ( shutterstock )

Am Abend des 22. Mai 1874 wird in Mailand ein europäisches Kulturereignis ersten Ranges geboten. In der Kirche San Marco führt Maestro Giuseppe Verdi seine "Messa da Requiem" auf. 

Aus dem In- und Ausland sind die Zuschauer gekommen. Der 60-Jährige ist ein international gefeierter Star. Zweieinhalb Jahre zuvor, zur Eröffnung des Suez-Kanals und auf Einladung des ägyptischen Königs, war in Kairo seine Oper "Aida" uraufgeführt worden.

In Mailand nun gedenken Verdi und hunderte Gäste des ein Jahr zuvor gestorbenen Schriftstellers Alessandro Manzoni. Der gilt als Nationaldichter des noch jungen Königreichs Italien. Verdi, selbst glühender Anhänger der italienischen Einigungsbewegung, hat Manzoni zu Ehren das Requiem komponiert.

Porträtfotografie des Komponisten Giuseppe Verdi von dem zeitgenössischen Fotografen Achille Ferrario (1856-1908) mit eigenhändiger Widmung (Entstanden am 5. April 1893 in Genua). / © Achille Ferrario/KNA (KNA)
Porträtfotografie des Komponisten Giuseppe Verdi von dem zeitgenössischen Fotografen Achille Ferrario (1856-1908) mit eigenhändiger Widmung (Entstanden am 5. April 1893 in Genua). / © Achille Ferrario/KNA ( KNA )

Als der Maestro vor das Ensemble von 120 Chorsängern und 100 Orchestermusikern tritt, wird es totenstill in der Kirche. Sähe man nicht, wie die Cellisten bereits über die gedämpften Saiten ihrer Instrumente streichen, wüsste man nicht, dass die Musik eingesetzt hat. 

Wirklich zu hören ist sie, als Bratschen und Geigen einstimmen: immer noch pianissimo eine Abwärtsbewegung ins Grab hinein.

"Requiem aeternam", haucht der Chor die ersten Worte des Eingangsgebetes: "Ewige Ruhe gib ihnen, Herr; und das ewige Licht leuchte ihnen". 

Die Texte der katholischen Totenmesse bieten dem Komponisten das Libretto für eine "Oper in liturgischem Gewand" - so wie er es mag: "Knapp und erhaben, ohne unnötiges Wort", wie Verdi es einmal formulierte.Bereits in seinen Opern schilderte Verdi, wie Menschen mit sich und ihrem Schicksal konfrontiert sind. Im Requiem steht noch einmal das ganze Leben auf dem Spiel. 

Verdi war gläubig, bekannte aber auch Zweifel

Es geht um alles oder nichts - Himmel oder Hölle, Leben oder Tod. Wie viele patriotische Landsleute ist Verdi zwar antiklerikal - der Papst hatte sich Italiens Einigung widersetzt -, aber doch gläubig. 

Im Schaffen des Komponisten, so der Musikpublizist Max Nyffeler, "ist der Tod so allgegenwärtig wie sein Gegenteil, die Liebe als höchster Ausdruck des Lebens". Beides hat Verdi früh erfahren müssen.

Nach nur zwei Ehejahren starben ihm der Reihe nach seine Tochter, sein Sohn und seine Ehefrau weg. Als 27-Jähriger stand er 1840 ohne Familie da. Schmerz und Mitgefühl begleiteten ihn lebenslang wie auch zweifelnde Hoffnung auf ein Danach. Die entsprechende Palette an Gefühlen und Gedanken hat Verdi in sein Requiem verwoben - mit Flüstern und Pizzicato, Pauken und Trompeten.

Auf den Introitus und die von Solisten und Chor leise flehende wie verzweifelt gerufenen Bitte "Kyrie eleison" (Herr, erbarme dich) folgt "Dies irae", der "Tag des Zornes". "Jener Tag", an dem "die Welt sich in Asche auflöst", bricht mit krachendem Fortissimo hernieder. 

Chorsänger mit einem Notenblatt / © Sonja Filitz (shutterstock)
Chorsänger mit einem Notenblatt / © Sonja Filitz ( shutterstock )

Feuersbrünste, Stürme, Erdbeben und Gewitter - vereint Verdi "tutti" zu einem musikalischen Bühnenbild der Endzeit. 

Beim Zuhören entsteht eine akustische Version des Michelangelo-Gemäldes in der Sixtinischen Kapelle, zerlegt in Einzelbilder von nackter Todesangst bis zaghaft-zerbrechlicher Hoffnung auf Erlösung.

Die Furcht vor dem drohenden "König schrecklicher Gewalten" wird fortissimo von Blechbläsern und Bass ebenso in Szene gesetzt wie die in den Singstimmen nach und nach einsetzende Bitte "Rette mich, Quell' der Güte".

Verdi war, so seine Biografen, gläubig; er bekannte aber auch Zweifel. Diese Haltung, so Nyffeler, klinge auch im Requiem durch. Verdi wage "ohne religiöses Sicherungsseil den Blick in die modernen Abgründe des Nichts". Dennoch folge diesen immer wieder die Wendung zur christlichen Botschaft.

Diese Dramatik von Tod und Trauer, Racheangst und Erlösungshoffnung tragen die Solisten aus Sicht der Seele des Verstorbenen vor. Der Chor tut es für die Hinterbliebenen und menschliche Gemeinschaft als ganze. 

Weil es aber die Totenmesse für Italiens Nationaldichter Manzoni ist, dürfen sich seine Landsleute angesprochen fühlen. Der Komponist selbst ist inzwischen eine italienische Ikone. Als er 1901 in Mailand stirbt, geben ihm 300.000 Menschen sein letztes Geleit.

Verdis Requiem wird zu einem Werk für Konzerthäuser

Sein Requiem wird wegen des großen Erfolgs kurz nach der Uraufführung auch mehrere Male an der Mailänder Scala gegeben. Es folgen Aufführungen in Paris und Wien. Anfangs zwar nicht unumstritten wird Verdis Requiem, mit knapp eineinhalb Stunden für eine Messe ohnehin zu lang, zu einem Werk für Konzerthäuser. 

"Ein Tongemälde mit intensivsten Farben und ohne den geringsten weißen Fleck", wie die Theologin Mariele Wulf schreibt. Dem Nichts des Todes setze Verdi "die ganze Palette menschlicher Gefühle und göttlichen Heils" entgegen. "Weniger als Alles ist angesichts dieser Musik nicht möglich."

Quelle:
KNA