Vor 25 Jahren klauten Unbekannte das "Bambinello" vom Kapitol

Roms verschollener Jesus

Nicht nur für fromme Römer war der Diebstahl der wundertätigen Jesusfigur aus Santa Maria in Aracoeli ein unerhörter Frevel. Der Fall ist seit 1994 nicht aufgeklärt. Aber immer weniger warten noch auf das Christkind.

Autor/in:
Burkhard Jürgens
Prozession mit dem "Bambinello" / © Romano Siciliani (KNA)
Prozession mit dem "Bambinello" / © Romano Siciliani ( KNA )

Ein spektakulärer Kriminalfall Roms ist weiter ungelöst: Vom Jesuskind auf dem Kapitol fehlt noch nach 25 Jahren jede Spur. Eine Kopie hat das "Bambinello" ersetzt, jenen pausbäckigen, mit Geschmeide reich behängten kleinen Heiland, der für Generationen von Römern der Inbegriff des Christkinds war. Mittlerweile kennen oft nicht mal die Eltern der Kinder, die heute zu dem Bildnis in die Kirche Santa Maria in Aracoeli pilgern, das wundertätige Original.

Für echte Römer ist das Bambinello so etwas wie das Gegenstück zur bronzenen Wölfin wenige Schritte nebenan auf dem Kapitol - ein Symbol ihrer Identität. Wunderhaft seine Herkunft: Ein Franziskanerbruder im 16. Jahrhundert schnitzte es der Überlieferung nach aus Olivenholz des Gartens Getsemani in Jerusalem; Engel bemalten es über Nacht. Auf dem Weg nach Italien erlitt der Bettelbruder Schiffbruch; der Kasten mit dem Jesuskind legte die letzten Seemeilen ans rettende Ufer von selbst zurück.

Diebe über Baugerüst eingestiegen

Die Römer liebten das Bambinello auf Anhieb. Sie vertrauten ihm Bitten an und fanden sie erhört; sie schmückten es mit goldenen Sternen, Perlen und Edelsteinen. In der Weihnachtskrippe spielt es die absolute Hauptrolle: Aufrecht in seiner gleißenden Pracht balanciert es auf dem Knie der Gottesmutter, die schützend ihre Hände zu den Seiten hält - ein goldener Wonneproppen mit einer mächtigen Krone und gütigen Augen.

Umso dreister erschien der Coup vom 1. Februar 1994. Über ein Baugerüst stiegen Diebe ein, die es vermutlich auf die Preziosen des Gottessöhnchens abgesehen hatten. Im Unterschied zum armen Stall von Bethlehem hielt in der Kirche niemand Wacht. Die Öffentlichkeit reagierte empört. Ganoven in Roms Haftanstalten riefen die Täter zu Reue auf, Adelsfamilien boten Lösegeld an. Die Franziskaner von Santa Maria in Aracoeli lehnten ab. Jesus kauft man nicht um ein paar Silberlinge.

Fälschungen entdeckt, Original bleibt verschwunden

Eine auf Kunstraub spezialisierte Abteilung der Carabinieri verfolgte Fährten im In- und Ausland, bis nach Argentinien. In den vergangenen Jahren entdeckte sie einige Fälschungen, nicht aber das Original. Dass es auf dem Kunstmarkt auftauchen könnte, galt seit jeher als fraglich - es war zu bekannt.

Bleibt die angstvolle Vermutung, dass die Räuber das Christkind seiner Schätze roh entkleidet und den Rest entsorgt haben. Ein tragisch absurder Akt: Erst kurz vor dem Diebstahl hatte man ihm bei einer Restaurierung den größten Teil der Votivgaben entfernt.

Franziskaner bewahrten alle Kinderbriefe auf

Die Freveltat verletzte vor allem die erwachsenen Römer in ihrer Kinderseele. Denn der Griff nach dem Bambinello war ein Anschlag auf den Glauben an eine heile Welt und umso schmerzlicher, wenn von dem Glauben nicht mehr als eine Erinnerung geblieben war. «Vielleicht will es, dass wir auf seine Rückkehr warten», sagt ein Kirchenbesucher melancholisch. Sogar das Fernsehen widmete noch zum Weihnachtsfest dem Bambinello eine Folge der Fahndungssendung "Chi l'ha visto".

Am ehesten hat die jüngste Generation den Verlust verschmerzt: Sie weiß nichts von dem Raub, und weniger auch von religiösem Brauchtum. Früher trafen jährlich Hunderte Kinderbriefe bei der Kirche ein; die Franziskaner beteten für die Anliegen und verwahrten jede Zuschrift. Auch war es üblich, dass Kinder zu Weihnachten eine kleine Predigt vor dem Jesuskind hielten.

Segen mit einer Kopie

Die Traditionen hätten "etwas nachgelassen", sagt Orazio Castorina, Rektor der Kirche. Diesen Dezember fielen die Besuche von Schulklassen aus. Briefeschreiben gerät ohnehin außer Mode. Die zugesandten Umschläge, so Pater Orazio, werden nach einer gewissen Frist ungeöffnet verbrannt.

Noch immer verlässt das Bambinello - beziehungsweise sein Faksimile - zu Weihnachten seine inzwischen kameragesicherte Kapelle. Den größten Auftritt hat es am 6. Januar bei einer Festmesse mit dem Kardinal der Basilika, Salvatore Di Giorgi. Als Erzbischof von Palermo legte sich Di Giorgi mit der Mafia an; später ermittelte er in der Vatileaks-Affäre, dem spektakulären Dokumentenklau im Vatikan. Vor dem Verschwinden des Bambinello musste er sich geschlagen geben.

Doch wie ehedem hebt der 88-jährige Kardinal am Dreikönigsabend das Jesuskind auf den Stufen von Santa Maria in Aracoeli schutzflehend über die Stadt. Der Segen mit einer Kopie für eine kleiner werdende Schar. (KNA)


Quelle:
KNA