Vor 35 Jahren, am 4. Juni 1989, fanden in Polen die ersten teilweise freien Parlamentswahlen statt. Sie endeten mit dem Sieg der Kandidaten aus der Liste des Bürgerkomitees Solidarnosc. Anschließend wurde der Oppositionspolitiker Tadeusz Mazowiecki (1927-2013) zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt.
Ein paar Wochen vor dem 4. Juni 1989 hatte sich Mazowiecki als Chefredakteur des wiederzugelassenen "Tygodnik Solidarnosc" bei Anna Cislo gemeldet. "Anna, ich möchte, dass du mitmachst"; als Büroleiterin, verantwortlich für die Arbeit des Sekretariats der oppositionellen Wochenzeitung in der ereignisreichen Zeit des Wahlkampfs. Anna überlegte nicht lange. "Ich bin dabei."
Ihre Wege kreuzten sich zum ersten Mal Ende der 70er Jahre, als Annas Ehemann Maciej seine ersten Artikel in der katholischen Intellektuellenzeitschrift «Wiez» veröffentlicht hatte. Nichts fürchteten die Kommunisten damals so sehr wie die Schreibklingen freier Geister. Bei "Wiez" gab es diese Geister, wie sich Anna im Rückblick erinnert. "Es war kein dogmatischer Katholizismus, der dort herrschte, sondern die Ideen des Personalismus des französischen Philosophen Jacques Maritain. Der Mensch stand im Mittelpunkt, seine Würde, seine Freiheit."
Schlappe für Jaruzelski
Die Wahl am 4. Juni ging anders aus, als es sich die Kommunisten rund um General Wojciech Jaruzelski erhofft hatten. Zwar rangelte sich der General am 19. Juli noch zum Amt des Präsidenten durch. Doch der Einfluss des politischen Flügels der Solidarnosc-Bewegung in den beiden Parlamentskammern war zu groß geworden. Die damaligen Blockparteien, Vereinigte Volkspartei und Demokratische Partei, wechselten die Seiten, um eine Koalition mit der Solidarnosc zu bilden. An die Spitze wurde Mazowiecki berufen, unter großem Einfluss von Lech Walesa. Die Wahl zum Ministerpräsidenten im Sejm gewann er mit überwältigender Mehrheit.
Zu Anna Cislos besonderer Freude. "Man konnte ihm anmerken, dass er sich seiner Verantwortung für Polen bewusst war", sagte sie. Und seiner Verantwortung gegenüber zahlreichen Frauen, die von der Solidarnosc-Machos gern von der öffentlichen Bühne verdrängt wurden - obwohl die Solidarnosc-Bewegung durch eine Frau, die Kranführerin Anna Walentynowicz, mitausgelöst worden war. Mazowiecki engagierte zur Überraschung vieler eine Frau als Regierungssprecherin: die unabhängige Journalistin Malgorzata Niezabitowska.
Eine innovative und angemessene Entscheidung; gab es doch in den Reihen der Opposition viele weibliche Persönlichkeiten, ohne deren Engagement die Wende nicht möglich gewesen wäre. "Frauen, die sich nicht zu schade waren, zuzupacken", wie sich Anna Cislo erinnert. Barbara Labuda etwa, eine Romanistin, die seit Mitte der 70er Jahre in der demokratischen Opposition aktiv war und von 1989 bis 1993 Abgeordnete im Sejm und von 1995 bis 2005 Ministerin in der Kanzlei des Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski war.
Oder Olga Krzyzanowska, eine Ärztin und Sejm-Abgeordnete von 1989 bis 2001, Sejm-Vizepräsidentin von 1989 bis 1991 und von 1993 bis 1997. Nicht zu vergessen: Hanna Suchocka, eine Verfassungsexpertin, von 1989 bis 2001 Parlamentarierin und von 1992 bis 1993 sogar Ministerpräsidentin.
"Unabhängig und frei"
Anna selbst war sich auch nicht zu schade. "Für mich stand früh fest, dass ich diesen Weg gehen wollte, unabhängig und frei in meinen Entscheidungen, auch gegenüber meiner Mutter, die sehr autoritär war". Nachdenklich blickt sie aus dem Fenster ihrer Warschauer Wohnung. Die Welt der Bildung und Literatur interessierte sie.
Das Studium der Germanistik in den 70er Jahren in Warschau bot ihr den Reiz, über den Tellerrand der Volksrepublik hinausschauen zu können. Doch statt das Studium pragmatisch durchzuziehen, verliebte sie sich in einen Architekturstudenten, den Dichter Maciej Cislo (1947-2023). Er brachte nicht nur Poesie in ihr Leben. "Meine Mutter war gegen ihn. Sie sah mich als Prinzessin an der Seite eines Juristen - aber ein armer Poet? Das war nichts für sie".
Als Anna Cislo Anfang der 80er Jahre Mazowiecki, den Chefredakteur des später verbotenen «Tygodnik Solidarnosc» kennenlernte, traf sie einen Mann, der seine Mitarbeiter sehr genau auswählte. "Es ging ihm um Kompetenz und Loyalität." Heute weiß man mehr, wer in den Oppositionsreihen mit der Staatssicherheit kooperierte. "Auch Frauen", wie Anna hinzufügen muss.
Katholischer Nationalismus
Nie wird sie den Wahlkampf um das Präsidentenamt 1990 vergessen. Der junge Jaroslaw Kaczynski brachte seinen national-katholischen Kandidaten Lech Walesa in Stellung, der an antijüdische Ressentiments in seiner Wählerschaft appellierte. Daraufhin wurde ein von einem Bischof ausgestelltes Zertifikat publik gemacht, wonach die Familie Mazowiecki seit dem 15. Jahrhundert polnisch war. Ergo: nicht jüdisch. Dennoch verlor er und zog sich zurück. "Ich verstehe bis heute nicht, dass diese Form von katholischem Nationalismus und Antisemitismus sich durchsetzen konnte - und das Land bis heute prägt", sagt Anna Cislo.
Eine Zeitlang blieb Anna danach noch in der Politik. Arbeitete im Sejm, in der Auslandsabteilung, für den späteren Außenminister Professor Bronislaw Geremek, der in Sachen Frauen ebenso Ausnahmegestalt der Solidarnosc-Helden war. Er wertschätzte seine Mitarbeiterinnen und trug mit dazu bei, dass die Verfassungsexpertin Hanna Suchocka 1992 zur Ministerpräsidentin Polens wurde. Ihre Regierung hatte freilich nur einen kurzen Bestand.
Und heute? "Es ist gut, dass sich immer mehr Frauen, oft sehr junge Frauen, in der polnischen Politik engagieren", ist Cislo überzeugt. "Wahre Solidarität schließt immer auch Geschlechtergerechtigkeit ein."