Frage: Johannes Calvin starb am 27. Mai 1564 in Genf. Zeitleben bewegen ihn als Theologen praktischen Anliegen der Glaubensbegründung. Während er theologische Schriften verfasst und die Bibel auslegt, ist er zu gleicher Zeit mit dem Aufbau christlicher Gemeinschaft beschäftigt. Was macht ihn als Theologen aus? Was für ein Seelsorger ist er?
Prof. Dr. Georg Plasger (Professor für Systematische und ökumenische Theologie an der Universität Siegen): Das Interessante an Calvin ist, dass er beides nicht voneinander trennen kann: Den Aufbau der christlichen Gemeinde – in Genf, aber auch andernorts – und die Seelsorge. Dabei ist für ihn Seelsorge – anders als wir es heute vor allem verstehen – nicht nur die Sorge um den einzelnen Menschen, sondern Seelsorge ist bei Calvin auch das Bemühen um ein gutes Miteinander.
Oft wird über Calvin geurteilt, dass er in Genf ein strenges Regiment geführt habe. Und natürlich war er ein Kind seiner Zeit und manches von ihm ist heute sehr problematisch zu sehen. Aber ihm lag sehr an der Trennung von Kirche und Obrigkeit, weil geistliche Ebenen von staatlichen Ebenen zu unterscheiden sind. Das Miteinander in der Kirchengemeinde ist ihm besonders wichtig – und das bedeutet konkret die Aufteilung der Aufgaben auf viele Schultern; das wehrt auch dem Machtmissbrauch.
Frage: Calvin ist orientiert von Gottes Bund mit den Menschen. Weil Gott seinen Erwählten stetig beisteht, dürfen sie mit Zuversicht in die Zukunft schauen, sie können Gott die Ehre geben und seine Güte preisen. Ist Calvin also im Grunde ein Theologe der Hoffnung?
Plasger: Der Gedanke des Bundes, den Calvin mit Zwingli und Bullinger, den früheren Schweizer Reformatoren, teilt, ist entscheidend: Gott hat sich für den Menschen entschieden, auch wenn der sich immer wieder gegen Gott entscheidet. Gott lässt den Menschen nicht los, auch wenn der immer wieder in Wort und Tat gottlos zu sein scheint.
Gott sieht also nach Calvin im Menschen mehr als der bei und an sich selber sehen kann – viel mehr Liebenswertes. Das lässt hoffen – und deshalb ist die Erwartung des Wiederkommens Jesu Christi eine Hoffnungsbotschaft und hat nichts mit Angst zu tun: Wir werden uns dort und die ganze Welt mit den Augen Gottes sehen dürfen.
Frage: Calvin hat dem Thema Gebet in seinem Handbuch für Theologen breiten Raum gegeben. Dort sagt er im dritten Teil, dass das Gebet die Schätze ausgräbt, die im Evangelium verborgen sind. Was würde Calvin Menschen antworten, die sich mit solchem "Graben" eher schwertun?
Plasger: Da zeigt sich wieder der Seelsorger Calvin. Er rät Menschen dazu, das Gebet einzuüben und also nicht damit zu rechnen, dass es immer gleich klappt und ein gutes Gefühl entsteht. Und die erste Gebetsübung besteht darin, dass der Mensch um seine eigenen leeren Hände weiß. Als Betender bin ich Empfänger – und Gott ist der Geber aller guten Gaben. Und nicht zuletzt auch derjenige, der uns vergibt.
Wir beten nicht, weil Gott das braucht, sondern weil es gut für uns ist. Deswegen darf es nicht als Leistung verstanden werden, auch wenn es zuweilen anstrengend ist – aber versehen mit einer großen Verheißung, dass uns der Reichtum des Evangeliums geschenkt wird.
Frage: Für den Reformator ist die Kirche keinen Selbstzweck. Vielmehr hat sie dienende Funktion für den menschlichen Glauben und für christliche Gemeinschaft. Zudem versteht Calvin sie mit Paulus als Leib Christi, der zwischen Auferstehung und endgültiger Vollendung bei Gott in der Geschichte präsent ist. Für Calvin ist Kirche daher überhaupt nur in stetiger Bezogenheit auf Jesus Christus zu verstehen, der das Haupt dieses Leibes ist. Allerdings ist diese Denkform in aktuellen Debatten zur Kirchenreform kaum anzutreffen. Ist das zu bedauern?
Plasger: Wozu ist die Kirche da – so fragt Calvin. Und seine knappe Antwort. Sie ist das Mittel, durch das uns Gott zur Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält. Entscheidend ist nicht das Mittel, sondern der Zweck. Natürlich sind Reformen in der Kirche nötig, immer wieder neu. Der Leib Jesu Christi braucht eine gute Organisation – und Calvin hat selber für organisatorische Klärung gearbeitet.
Aber entscheidend ist die Gemeinschaft mit Christus – das ist das theologische Grundmotto Calvins. Wir leben in Deutschland in den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche immer noch in großer Nähe zum Staat – und erleben zunehmend, dass sich hier viel verändert. Die Kirchen sind auf dem Weg in eine gesellschaftliche Minderheit – wie übrigens in vielen Teilen der Welt. Und hier können wir von Calvin viel lernen, weil er dem Leib Jesu Christi zutraut, Salz der Erde zu sein.
Frage: Calvin hat sich gegen den Vorwurf gewandt, er wolle die Kirche zerteilen. Vielmehr verstand er sich als Kämpfer für die Einheit der Kirche. Sehen Sie in Calvins Theologie auch ökumenisches Potential?
Plasger: Calvin ist ein ökumenischer Theologe, den die Trennung der Kirche sehr schmerzte. Aber er verstand Einheit tiefer als nur ein äußerliches Beieinander: Die Kirche muss in Lehre und Leben versuchen, in der Nachfolge Jesu Christi zu leben. Das sah er in der Reformationszeit nicht überall gegeben. Aber er sieht Hinweise auf Einigkeit auch bei vorhandenen Unterschieden. So hat er beispielsweise Jesus Christus als "Substanz des Sakraments" benannt.
Und auch wenn er kein Vertreter eines Wandlungsverständnisses im Abendmahl war, ermöglicht doch diese Vorstellung eine mögliche Anerkennung anderer Abendmahlsverständnisse – und vielleicht ist dann die römisch-katholische Transsubstantiationslehre eine mögliche, aber nicht die einzig mögliche Interpretation des Abendmahlsgeschehens.
Aber das hat nicht Calvin so gesagt, das ist meine Meinung. Wir dürfen aber auch nicht bei Calvin stehen bleiben – dann würden wir den Zeugen Johannes Calvin überhöhen. Und das wäre ganz und gar nicht in seinem Sinne gewesen.
Das Gespräch führte Prof. Dr. Christoph Heizler, Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Pastoraltheologie an der Katholischen Hochschule Freiburg im Breisgau. Das Interview erschien zuerst im Mai 2024 im ANZEIGER FÜR DIE SEELSORGE.