Die Zahl der Anekdoten vom Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) ist Legion. Vor allem ein Zwischenfall ist im kollektiven Gedächtnis haften geblieben, weil er wie kein anderer die Polarität der größten Kirchenversammlung des 20. Jahrhunderts spiegelt.
Hauptperson war ein Vorgänger des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki: der eigentlich als volksnaher Konservativer bekannte Josef Frings (1887-1978).
Am 8. November 1963, vor 60 Jahren, griff Frings frontal und in furioser lateinischer Rede das Heilige Offizium an, den Vorläufer der vatikanischen Glaubensbehörde. Dessen Leiter Alfredo Ottaviani (1890-1979) kochte förmlich: "Altissime", mit lautester Stimme also, müsse er gegen die Schmähungen seiner Behörde protestieren.
Rede mit Applaus
Es war womöglich der entscheidende Moment des Konzils: Der Kölner Erzbischof, 76 Jahre alt, fast erblindet, trat ans Rednerpult – um nun mitten im Petersdom massiv gegen ein jahrhundertealtes ungeschriebenes Gesetz zu verstoßen: Das Heilige Offizium ist nicht zu kritisieren!
Und Frings ging in die Vollen: Die oberste Vatikanbehörde, Nachfolgerin der mittelalterlichen Inquisition, habe der Kirche schweren Schaden zugefügt und sei für Nichtkatholiken ein Ärgernis.
Rechtgläubige Gelehrte würden verurteilt, ohne angehört zu werden; ohne Angabe von Gründen würden theologische Bücher verboten. Applaus in der Konzilsaula – und der brüskierte Behördenchef Ottaviani rang sichtlich um Fassung.
Frings' Konzilsberater war Joseph Ratzinger
Der Angriff war ein doppelter: Er zielte auch und vor allem auf Ottavianis Anspruch, mit seiner Theologischen Kommission über Recht- und Unrechtmäßigkeit der Konzilsbeschlüsse zu befinden – sprich, die Kurie über die Autorität des Konzils und der versammelten Bischöfe der Weltkirche zu stellen. Es war diese drohende Entmündigung der Konzilsväter, die Frings – einen der zwölf Präsidenten der Versammlung – zu seiner beispiellosen Attacke gegen die traditionellen Überwachungspraktiken des Vatikans brachte.
Pikanterweise hat der Kölner Kardinal seine theologische Umkehr zu nicht geringen Teilen seinem jungen Konzilsberater zu verdanken, der sich damals als eine der Speerspitzen der "Fortschrittlichen" profilieren konnte: Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. (2005-2013).
Ein neuer Frings
Ratzinger hatte für Frings dessen erstes progressives Manifest verfasst, einen Vortrag über "Das Konzil und die moderne Gedankenwelt", mit dem Frings 1961 in Genua glänzte und der ihm auch bei Papst Johannes XXIII. (1958-1963) einen dicken Stein im Brett verschaffte.
Der frische Wind unter dem Konzilspapst machte auch einen neuen Frings. Und auch von Paul VI., ab März 1963 Papst, fühlte er Rückendeckung: Am Vortag der furiosen Redeschlacht hatte der den deutschen Bischöfen in einer Audienz versichert, er halte Reformen in der Kirche für unverzichtbar.
Kampf der Titanen?
Die Schriftstellerin Luise Rinser (1911-2002) erklärte sich Frings' kämpferischen Wandel mit dem Verlust seines Augenlichts. Das mache ihn hellhöriger, auch für "die Notrufe der Zeit". Der Kardinal selbst sagte über sein Selbstverständnis, die Bischöfe seien im Konzil nicht Gehorchende, sondern gemeinsam mit dem Papst selbst Gesetzgeber. Da dürfe es nicht verwundern, dass "manche, die sich im Gehorsam gegen den römischen Papst von niemandem übertreffen ließen", nun in dieser Lage "fortschrittliche und freiheitliche Ansichten" verträten.
Die Attacke des 8. November machte Furore. Die Konzilsväter drängten sich nach den Beratungen an die beiden Bars in den Seitenschiffen des Petersdoms, um den Vorfall nachzubereiten. Die "Deutsche Tagespost" schrieb martialisch von einem "Kampf der Titanen", und die Essener Bistumszeitung "Ruhrwort" verglich das Duell mit der biblischen Überlieferung, "als Paulus in Antiochien den Petrus vor allen zur Rede stellte".
Wer regiert die Kirche zukünftig?
Frings selbst spielte das Ereignis herunter: Der fast gleichaltrige Ottaviani sei später an der Bar zu ihm gekommen und habe auf Französisch zu ihm gesagt: "Nous sommes frères" (wir sind Brüder); im Grunde wollten sie doch beide dasselbe.
Es ist nicht ohne historischen Charme, dass 60 Jahre, nachdem Frings und sein Berater Ratzinger die Mauer des Schweigens über die Kurie einrissen, nun Papst Franziskus mit der Weltsynode einen neuen Reformversuch unternimmt. Und wieder geht es, zumindest unterschwellig, auch um die Frage: Wer regiert die Kirche? Der Papst allein? Papst und Bischöfe in Kollegialität – oder in "Synodalität", so das Schlagwort dieser Tage? Oder doch der römische Apparat?