Gaming kann tödlich sein - in extremen Fällen. Es habe bereits Suizidversuche gegeben oder Tötungen, wenn Verwandte etwa einen Account gelöscht hätten, sagt der Mediziner Bert te Wildt. Er ist Chefarzt an der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen am Ammersee, wo es auch eine Abteilung für Internetsucht gibt.
Seit zwei Jahren ist das "pathologische Spielen, vorwiegend online" im Diagnosekatalog der Weltgesundheitsorganisation WHO verzeichnet. Beobachtet wird exzessives Nutzungsverhalten schon deutlich länger - vor allem im Bereich von Spielen. Neuere Studien sehen auch hohes Suchtpotenzial bei der Nutzung der Sozialen Medien; besonders häufig kommt zudem Online-Sexsucht vor.
Ruf nach Überwachung des Gaming-Marktes
Warum Spiele besonders anfällig machen können, hat zuletzt die Stiftung Warentest näher beleuchtet. Die meisten Spiele-Apps seien "auf nahezu endlose Nutzung" angelegt, hieß es: Wer unterbreche, verliere mitunter den eigenen Spielstand, in anderen Fällen werde tägliches Spielen belohnt. Auch Gruppenaktivitäten könnten dazu verleiten, immer mehr Zeit zu investieren. "Wenn ich Hausaufgaben mache oder Fußball spiele und deshalb mein 'Clan' im Spiel verliert, erzeugt das natürlich hohen Druck im Freundeskreis", erklärt der Multimedia-Experte der Stiftung, Martin Gobbin.
Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass bei jüngeren Jugendlichen - sprich: 12- bis 17-Jährigen - 8,4 Prozent von einer computer- oder internetbezogenen Störung betroffen sind. Bei den jungen Erwachsenen (12 bis 25 Jahre) seien es 5,5, Prozent. In der jüngeren Altersgruppe seien mehr weibliche Personen (10 Prozent) betroffen als männliche (7 Prozent); auch bei den älteren steige der Anteil von Frauen mit einem problematischen Nutzungsverhalten.
Der Avatar wird zum zweiten Ich
Das erklären sich Fachleute auch mit einer Tendenz zu "raffinierter Monetarisierung" aufseiten der Anbieter. Die meisten Apps ließen sich zwar gratis installieren, verführten jedoch zu In-App-Käufen. Belgien stufe inzwischen etwa Beutekisten, die man kaufen müsse, ohne zu wissen, was sich darin befinde, als Glücksspiel ein, erklärt der Bereichsleiter Untersuchungen der Stiftung Warentest, Holger Brackemann. Es brauche klare und nachvollziehbare Bezahlmodelle, aber: "Eine konsequente Überwachung dieses Marktes fehlt."
Entscheidend ist laut Psychiater te Wildt indes nicht allein, wie lange jemand spielt. Betroffene versuchten oft vergeblich, den Konsum einzuschränken. "Darüber hinaus geht es um Entzugserscheinungen, also negative Stimmung bis hin zu psychophysiologischen Reaktionen", sagte er der "Süddeutschen Zeitung".
Avatare werden Teil der Identität
Süchtige bauten sich über Jahre eine Figur auf, auf die sie stolz seien und mit der sie viel Zeit verbrächten, erklärt der Experte. "Die einzige Unterbrechung ist der Schlaf. Gegessen wird vor dem Computer, aufgestanden nur noch zur Toilette". Manche legten sich sogar einen Katheter oder platzieren einen Eimer am Spieltisch. "Wenn so jemand seinen Avatar verliert, verliert er einen großen Teil der eigenen Identität."
Viele Betroffene vernachlässigten soziale Beziehungen sowie Schule und Ausbildung, so te Wildt. "Und sie verwahrlosen. Erst wäscht man sich seltener, irgendwann stapeln sich im Zimmer die schimmeligen Pizzakartons." In der Online-Welt hätten sie jedoch das Gefühl, so sein zu können, wie sie sein wollten, und sähen sich mit weniger Widerständen und Mühsal konfrontiert.
Leben ohne Internet wäre nicht sinnvoll
Die Therapie am Ammersee setze zunächst auf Entzug, dann auf eine stundenweise Annäherung an digitale Medien. "Es geht darum, von dem Format, was in die Sucht geführt hat, Abstand zu nehmen, nicht vom Internet komplett", betont der Mediziner. Viele nähmen von ihrem Avatar regelrecht Abschied: "Wie eine Beerdigung. Mit Weinen und Abschiedsreden."
Wichtig sei auch, die Perspektive nach dem Klinikaufenthalt zu prüfen: Wenn jemand danach "in dieselbe verwahrloste Studentenhöhle" zurückkehre, ohne Freundeskreis, "dann ist der Rückfall vorprogrammiert".