Am Anfang war die Angst. Was passiert als nächstes? Kann ich meine Familie noch besuchen? Dann kamen praktische Fragen hinzu: Woher bekomme ich Toilettenpapier, woher Hefewürfel? Welche Bahnfahrt ist wirklich nötig? Was habe ich beim Einkaufen angefasst? Maske dabei? Im Frühjahr, als das Coronavirus in Europa um sich zu greifen begann, fühlten sich viele Menschen überfordert. Neue Routinen stellten sich ein - und die Erkenntnis: Diese Pandemie wird so schnell nicht enden.
Hoffnung und Sehnsucht
Weiterhin ist die Hoffnung auf einen medizinischen Durchbruch und auf einen Erfolg durch die neuen Impfstoffe groß. Mindestens ebenso groß ist die Sehnsucht nach Normalität. Im "Lockdown light" erleben viele Menschen eine bittere Kostprobe in Sachen Sehnsucht. Nach Freunden oder Angehörigen, die sie wegen Kontaktverboten nicht sehen dürfen, nach Freiheit und Unbeschwertheit, nach dem "ganz normalen Alltag". Im Internet werden die Hoffnungen, Wünsche und Pläne für die Zeit danach gesammelt, unter Schlagworten wie #wenndasvorbeiist.
Allerdings weiß niemand so wirklich, wann "das" vorbei sein wird. Der Philosoph Timo Reuter hat ein Buch über das Warten geschrieben. Die Corona-Krise sei am ehesten geprägt von einer existenziellen Form des Wartens, sagt er: Es unterscheide sich vom alltäglichen Warten auf den Bus oder dem vorfreudigen Warten auf Weihnachten in der Adventszeit. Grundsätzlich gehe es oft mit einem Gefühl von Ohnmacht einher: "Wer wartet, kann nicht über seine Zeit verfügen - dabei will heute jeder möglichst selbstbestimmt sein."
Sehnsucht - der mal verträumte, mal schmerzliche Gedanke an eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Ereignis - könne durchaus hilfreich sein und dazu beitragen, dass Menschen sich länger und intensiver vorfreuen, sagt Reuter. Zielloses Warten dagegen mache mürbe und ängstlich. "Die Menschen haben es satt", betont der Philosoph. "Es ist belastend - gerade weil viele im Frühjahr dachten, im Winter ist das vorbei."
"Am schlimmsten ist Warten in Unsicherheit"
Der Psychologe Marc Wittmann bestätigt: "Am schlimmsten ist Warten in Unsicherheit." Wer sich auf einen bestimmten Zeitraum einstellen könne, dem falle das Warten leichter - das kenne jeder, der auf einen verspäteten Zug warte. Menschen brauchten etwas, worauf sie sich freuen könnten. Die aktuelle Situation führe darüber hinaus zu einer Spaltung: "In diejenigen, die darauf warten, dass ihr Lieblingsrestaurant wieder öffnen darf - und in diejenigen, die darauf warten, dass sie in diesem Restaurant wieder arbeiten dürfen." Reuter mahnt, es brauche mehr Debatten über die psychischen und sozialen Folgen des Lockdowns.
Zugleich galt die Adventszeit in früheren Jahren auch als stressig. Manch einer sehnte sich nach Ruhe, nach mehr Zeit für die Liebsten und zur Vorbereitung auf das Fest. Insofern biete die Ausnahmesituation die Möglichkeit, den Advent selbstbestimmter anzugehen, sagt Wittmann - ohne zahllose Verabredungen an Glühweinständen und ohne Jagd nach Geschenken in vollen Kaufhäusern.
Zeit der Besinnlichkeit
Zudem sei der Advent "das ideale Beispiel" für die sogenannte Zielorientierung, erklärt der Psychologe. "Die Vorfreude auf eine neue Kerze, die am Sonntag entzündet wird, auf die Türchen am Adventskalender, auf den Nikolaus - das kann an jedem Tag einen kleinen Höhepunkt setzen." Diese Etappen bewusst zu zelebrieren, könne gegen den Corona-Blues helfen, sagt Wittmann. Zudem helfe eine "gehörige Prise Akzeptanz" gegenüber der Situation.
Auch könne jetzt die Zeit dafür sein, etwas zu tun, was man immer schon tun wollte, etwa Fotos zu sortieren oder die Wohnung besonders schön zu schmücken. Reuter rät dazu, Vorfreude-Listen zu führen und sich schon jetzt Zeit für kleine Projekte, Sport und Meditation zu nehmen. "Für all das ist mehr Raum, weil die Angst, etwas zu verpassen, wenn man einen Abend zu Hause bleibt, ausgesetzt ist", erklärt er.
Der Advent sei traditionell eine Zeit der Besinnlichkeit und Innenschau. Daraus könne vielleicht auch die Gesellschaft lernen, "dass nicht alles immer weiter, schneller, höher sein muss", so Reuter, "sondern dass es vor allem darauf ankommt, gesund zu sein und mit anderen in Kontakt zu sein."