DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche in den Niederlanden hat alle öffentlichen Gottesdienste an Heiligabend abgesagt. Ist diese Entscheidung der niederländischen Bischöfe überraschend?
Prof. Dr. Jan Loffeld (Professor für Praktische Theologie in Utrecht und Priester des Bistums Münster): Wenn man sich die ganze Entwicklung während der Corona-Krise anschaut, dann haben die niederländischen Bischöfe eigentlich immer sehr eindeutig reagiert. Im März hat man etwa schon alle Gottesdienste bis Pfingsten abgesagt. Insofern passt diese Entscheidung gut ins Bild.
DOMRADIO.DE: Dabei muss man auch sagen, dass Heiligabend in den Niederlanden nicht diese große Rolle spielt, wie in Deutschland.
Loffeld: Das ist tatsächlich ein wenig anders. Der eigentlich emotionale Abend ist der 5. Dezember, der Vorabend vom Nikolaustag. Da steht das Land so still wie bei uns an Heiligabend und alle sind zuhause.
Die Weihnachtsgeschenke gibt es am ersten Weihnachtstag. Der 24.12. ist für viele ein normaler Arbeitstag, an dem man sich schon mal einen "gezellige borrel“ - deutsch Umtrunk - gönnt. Gefeiert wird der 25.12., wobei seit einigen Jahren in den großen Städten wie Rotterdam oder Amsterdam einige Supermärkte sogar geöffnet haben. Man möchte hier vermutlich der Tatsache Rechnung tragen, dass nicht alle Einwohner des Landes wirklich Weihnachten feiern, sei es aus religiösen oder persönlichen Gründen.
DOMRADIO.DE: Die niederländischen Bischöfe haben sich relativ schnell auf die Absage der Gottesdienste geeinigt. Woher kommt diese Einmütigkeit? In Deutschland hätte das doch sicher große Diskussionen gegeben?
Loffeld: Ich kann das nur vermuten. Ich denke, dass es auch damit zusammenhängt, dass die Niederländer eigentlich immer sehr viele weltanschauliche und ethnische Denominationen im Land hatten und mit dieser Diversität umgehen mussten. Man nennt das das "Poldermodell“, bei dem man einen Kompromiss "auspoldert“.
Es gibt dabei häufig einen "Point of no Return" - das erlebe ich auch in manchen Diskussionen - wo die Niederländer dann umschalten und fast alle an einem Strang ziehen. Manche erklären das mit dem Satz: "Wenn das Wasser kommt". Das heißt, wenn die Sturmflut kommt, wenn also eine wirkliche Naturgefahr da ist, dann muss man zusammenhalten, dann steht die Existenzfrage über allem - und die verbindet die vorher mitunter sehr unterschiedlichen Meinungen. Ähnlich war es auch am Montagabend, als Ministerpräsident Rutte den erneuten Lockdown ankündigte. Hier gab man dem eigenen Volk nicht noch zwei gemütliche Tage Zeit, um sich darauf einzurichten, nein die Bestimmungen wurden ab Mitternacht desselben Tages umgesetzt. Vieles geschieht hier sehr schnell und sofort, vor allem wenn man davor Angst haben muss, dass viele deutsche Nachbarn für ihre Weihnachtseinkäufe über die Grenze kommen könnten und das Infektionsgeschehen noch weiter außer Kontrolle gerät.
Im Vordergrund steht für Niederländer in vielen Beziehungen der "Deal", mit dem alle gut leben können sollen. Ein wenig lebt darin die alte Kaufleutemenalität fort. Das ist etwas, das ich aus Deutschland weniger kenne, wo fast alles bis zum Schluss prinzipiengerichtet ausdiskutiert wird. In den Niederlanden gibt es hingegen eher mal einen Punkt, wo für alle deutlich wird: jetzt müssen wir alle und zwar sofort an einem Strang ziehen. Das heißt allerdings nicht, dass nicht vorher alle ihre Meinung gesagt hätten. Denn meinungsstark sind viele Niederländer zweifelsohne.
DOMRADIO.DE: Der Erzbischof von Utrecht, Kardinal Eijk, ist als Vorsitzender der niederländischen Bischöfe gelernter Arzt. Kann das auch eine Rolle bei der Entscheidung gegen Gottesdienste an Heiligabend gespielt haben?
Loffeld: Er hat in seinem Bischofswappen tatsächlich den Äskulap-Stab, weil er in den 1970ern in Amsterdam Medizin studiert und als Arzt gearbeitet hat, bevor er ins Priesterseminar gegangen ist. Es gibt daher auch Stimmen unter den Kolleginnen und Kollegen, die sagen, dass es mit der Erstprofession des Kardinals zusammenhängt, dass man die Pandemie hier kirchlicherseits sehr ernst nimmt.
DOMRADIO.DE: Tragen die Katholiken in den Niederlanden diese Entscheidung der Bischöfe mit? Oder gibt es da auch Widerstand?
Loffeld: Ich kann das jetzt nur sagen von den Leuten, die ich gesprochen habe und was ich aus der Pfarrei mitbekomme, in der ich selbst mithelfe. Dort sind nun sogar unter der Begründung: "was darf, muss nicht klug sein" die Gottesdienste bis zum Ende des Lockdowns im Januar alle auf digitale Formate umgestellt worden. Die Vorgabe war, dass es für jede Feier nicht mehr als 30 Leute geben solle. Ein Pfarrer hat erzählt, dass es unter den aktiven Christen fast ein Gerangel bei der Anmeldung um diese wenigen Plätze gab, so dass er über die Absage aus Gerechtigkeitsgründen sogar beruhigt ist.
Unter anderem dadurch, dass die Bischofskonferenz bereits länger eine Website geschaltet hat, wo man etwa sehr schön ausgearbeitete Hausgottesdienstentwürfe und viele Angebote im Fernsehen oder Internet finden kann, habe ich den Eindruck, dass die Entscheidung weitgehend mitgetragen wird. Die Grundbotschaft ist: Wir feiern Weihnachten, jede und jeder kann dazu das ihm passende und während der Pandemie verantwortbare Format wählen. Die Website heißt: vierkerstmis.nl, was übersetzt heißt: Feier Weihnachten!
Das führt pastoraltheologisch unter anderem zu der Frage, ob die künftige Kirche in den säkularen Niederlanden mit ihren vielen Kirchschließungen nicht auch eine Art "vernetzte Hauskirche" werden wird. Vielleicht ermutigen Erfahrungen aus dem Lockdown ja dazu, auch über diese ja nicht unbekannte Kirchlichkeitsform nach zu denken – und das nicht nur für Holland!
Das Gespräch führte Jan Hendrik Stens.