DOMRADIO.DE: Was haben Sie gedacht, als Sie die Bilder der jüngsten Pro-Palästina-Demo in Essen gesehen haben, bei der schwarze Flaggen geschwenkt, das Kalifat ausgerufen und Israel- und judenfeindliche Parolen skandiert wurden?
Burak Yilmaz (Pädagoge und Autor): Als ich diese Demo in Essen gesehen habe, war ich auf der einen Seite sauer und total entsetzt, aber auf der anderen Seite leider nicht überrascht, weil gerade in Nordrhein-Westfalen islamistische Strukturen keine Neuheit sind. Trotzdem ist man fassungslos. Es herrscht im Moment ein antisemitisches Klima, was mir große Sorgen bereitet.
DOMRADIO.DE: Die deutsche Politik wirkt oft hilflos angesichts dieses Hasses, der da auf die Straße getragen wird. Was müsste in Ihren Augen passieren?
Yilmaz: Wenn sich demokratische Parteien im Moment nach rechtspopulistischen Stimmungen richten, ist das eine Katastrophe. Ich erwarte gerade von demokratischen Parteien, dass sie unsere offene Gesellschaft gegen Islamisten und gegen Rechtsextreme verteidigen, anstatt zum Beispiel eine Sprache zu bedienen, mit der Gruppen stigmatisiert werden, die noch zusätzlich Öl ins Feuer gießt. Da mache ich mir große Sorgen.
Wenn die Politik so tut, als wäre sie hilflos, dann frage ich mich, wer denn die Verantwortung in diesem Land hat? Ich bin total fassungslos, dass niemand Verantwortung übernimmt und einfach signalisiert: "Wir werden jetzt handeln und zwar auf allen Ebenen unserer Gesellschaft."
DOMRADIO.DE: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat gerade noch einmal betont, dass man zum "Antisemiten nicht geboren, sondern erzogen wird". Das ist genau Ihr Thema. Und seit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober sind Sie jetzt noch mehr an Schulen unterwegs und diskutieren über Antisemitismus. Wie genau machen Sie das?
Yilmaz: Für mich ist sehr wichtig ist, genau das zu vermitteln: Dass wir nicht antisemitisch auf die Welt kommen, sondern im Laufe unserer Sozialisation mit Gerüchten in Kontakt kommen, mit Stereotypen oder Vorurteilen, die sich verfestigen. Dass man dann häufig glaubt, dass diese Vorurteile die Wahrheit sind.
Wenn die Schüler mit antisemitischen Sprüchen kommen, frage ich nach: "Woher hast du das? Von wem hast du das gehört?" Ich rege sie also an, sich die Frage zu stellen, wo sie denn etwas zum ersten Mal aufgeschnappt haben. Nnatürlich stoße ich damit auf Widerstände, natürlich stoße ich damit auf Abwehr. Aber ich finde diese Widerstände gut, weil sie mir signalisieren, dass da gerade eine Person ihre Vorurteile in Frage stellt, ihr Weltbild in Frage stellt.
Gleichzeitig muss man aber eine Sicherheit vermitteln und immer wieder sagen, dass es gut ist, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Denn die Konsequenzen von Antisemitismus sind eben nicht Vorurteile, die wir in unseren Köpfen haben, sondern, dass Jüdinnen und Juden hier in Deutschland angegriffen werden.
DOMRADIO.DE: Sie waren in den vergangenen Jahren immer wieder mit jungen Muslimen in Auschwitz, haben auch ein jüdisch-muslimisches Theaterprojekt entwickelt. Wie können Sie Jugendliche überhaupt erreichen, die von klein auf gelernt haben, dass Israel der Todfeind ist?
Yilmaz: Diese Jugendlichen sind gut zu erreichen, weil sie schon eine gewisse Politisierung hinter sich haben. Es ist zwar eine Politisierung, die problematisch ist, aber immerhin sind sie über diesen Konflikt informiert.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass es viel einfacher ist, mit solchen Jugendlichen zu arbeiten, als mit Jugendlichen, die völlig unpolitisch sind und dann sagen: "Was juckt mich das Ganze? Das interessiert mich nicht, was da unten passiert." Das letztere finde ich noch problematischer. Wenn ich zum Beispiel Jugendliche habe, die schon stark politisiert, zum Teil auch ideologisiert sind, kann ich viel von meinem eigenen Aufwachsen in Duisburg-Marxloh erzählen.
Ich sage ihnen dann, dass ich das aus meiner eigenen Biografie kenne. Ich habe selbst eine Zeit lang starke Vorurteile gehabt. Aber ich bin nicht mit diesen Vorurteilen auf die Welt gekommen, sondern es gab irgendwo einen Onkel, es gab Nachbarn, die mich mit diesem ganzen Hass vollgepumpt haben. Als Kind kann man ja nicht wirklich den Erwachsenen widersprechen.
Aber heute bin ich erwachsen, heute weiß ich, dass man das, was man als Kind gelernt hat, auch in Frage stellen kann, dass man diesen Hass auch ablegen kann und dass man für eine Gesellschaft kämpfen kann, in der sich alle Menschen sicher fühlen.
DOMRADIO.DE: Inwieweit hilft es Ihnen, dass Sie den Hintergrund muslimischer Migranten teilen und wissen, wovon die Jugendlichen sprechen?
Yilmaz: Es hilft sehr. Weil ich die Milieus kenne, weil ich die Erzählungen kenne, weil ich türkische und arabische Medien kenne, aber gleichzeitig auch nicht total einseitig sage, dass dieses Problem nur die Muslime haben. Ich versuche das Ganze in ein Land einzubetten, das die krasseste antisemitische Geschichte hat und bis heute seine Geschichte nicht aufgearbeitet hat, aber sich gleichzeitig Erinnerungs-Weltmeister nennt.
Wenn ich in Gesprächen mit vielen deutschen Familien nachfrage, was denn die Großeltern gemacht haben, kommt eher Schweigen. Ich zeige also, dass es auch dort eine gewisse Doppelmoral gibt, auch dort keine Auseinandersetzung mit Antisemitismus.
Wenn ich mich damit auseinandersetze, knüpfe ich mich aber gleichzeitig an der Auseinandersetzung im eigenen Milieu an. Ich konzentriere mich also nicht nur auf ein einziges Milieu, sondern sehe den Kontext unserer Gesellschaft, aber auch den globalen Kontext. Denn im Moment haben Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt Angst um ihre Sicherheit.
DOMRADIO.DE: Was sagen Sie zu der Argumentation, nach der Verantwortliche in Deutschland in der Vergangenheit auch deshalb nicht genügend auf die Bildung und Integration junger Muslime gedrungen haben, weil sie nicht als Rassisten dastehen wollten. Ist da was dran?
Yilmaz: Das höre ich auch von Politikern häufig – und kann es nicht verstehen. Das ist ein Totschlagargument. Man hat doch diese migrantischen Stadtteile einfach links liegenlassen, man hat seit den Achtzigern nichts in diese Stadtteile investiert, gleichzeitig aber die Steuergelder unserer Großeltern genommen. Das ist doch scheinheilig.
Ich frage mich, was man diesen Stadtteilen anbieten möchte. Möchte man sie weiterhin stigmatisieren? Möchte man sie einfach Menschen überlassen, die antidemokratisch sind? Da merke ich, dass wir auch in der Integrationspolitik für diese Stadtteile und für diese Menschen keine Politik gemacht haben. Das ist nämlich das Problem.
Ich selbst bin in Duisburg- Marxloh aufgewachsen und hatte überhaupt nicht die Möglichkeit, an dieser Gesellschaft teilzuhaben. Ich musste mir alles selbst erarbeiten. So geht es vielen meiner Freundinnen und Freunde.
Wenn die Gesellschaft es nicht schafft, diese Stadtteile als Teil dieser Gesellschaft zu begreifen, dann darf sie sich am Ende auch nicht wundern. Denn so bieten diese Viertel für Islamisten den perfekten Nährboden. Dort finden sie Jugendliche, die frustriert sind, die arm sind, die wütend sind. Diesen Jugendlichen bieten sie ganz einfache Antworten an.
DOMRADIO.DE: Der Koordinationsrat der Muslime hat gerade beklagt, muslimische Menschen seien in Deutschland jetzt gerade mit "gebetsmühlenartig wiederholten Distanzierungsforderungen vom Terror" konfrontiert. Sehen Sie das auch so?
Yilmaz: Ich finde das Klima im Moment sehr gefährlich. Wir kommen in dieser Debatte auch nicht weiter, wenn wir die eine Minderheit gegen die andere ausspielen. Es ist wichtig, dass wir in der muslimischen Community Haltung gegen Antisemitismus zeigen, dass wir auch in der muslimischen Community verstehen, dass der Kampf gegen Antisemitismus mit dem Kampf gegen Rassismus verbunden werden muss.
Auch in der deutsch-muslimischen Zivilgesellschaft haben wir viele Akteure, viele progressive Stimmen, die aber leider nicht gesehen werden. Diese Stimmen sollten wir hörbarer machen.
Auf der anderen Seite merke ich, dass pauschalisierende Debatten, dass stigmatisierende Debatten keinen einzigen muslimischen Jugendlichen abholen. Sie fördern im Gegenteil sogar das Denken, dass man sowieso hier nicht gewünscht ist. Ich würde mir eine viel differenziertere Debatte wünschen. Ich würde mir wünschen, dass von allen Menschen in Deutschland erwartet wird, sich gegen Antisemitismus zu engagieren.
DOMRADIO.DE: Welche Konsequenzen ziehen Sie persönlich bei Ihrer Arbeit aus der aktuellen Situation nach dem 7. Oktober?
Yilmaz: Dass es so nicht weitergehen kann. Es kann nicht sein, dass in der Politik nicht gehandelt wird. Außerdem erschüttert es mich wirklich, wenn der Bundeskanzler sich auf dem Spiegel-Cover mit dem Zitat "Wir werden im großen Stil abschieben" ablichten lässt.Da habe ich als Teil einer Minderheit das Gefühl, dass mein Leben hier nicht sicher ist. So geht es gerade wohl allen Minderheiten.
Ich würde ich mir wünschen, dass die Politik klare Kante zeigt und sagt: "Wir werden unsere offene Gesellschaft gegen Islamisten und auch gegen Rechtsextreme verteidigen. Und wir stehen an der Seite von Minderheiten und wir lassen sie in diesem Land nicht alleine."
Das Interview führte Hilde Regeniter.