Kölner Kirchenzeitung: Wie sieht momentan Ihr Tagesablauf aus?
Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki (Erzbischof von Köln): Ganz anders als vor der Aufarbeitung. Ich habe viele Termine der beurlaubten Weihbischöfe übernommen. Ich firme viel mehr als früher. Letzte Woche hatte ich wieder ein Gespräch mit einem Betroffenen sexualisierter Gewalt. Solche Gespräche nehmen mich immer mit, aber sie helfen. Für den Aufarbeitungsprozess sind sie unglaublich wertvoll. Dann habe ich coronabedingt viele Videokonferenzen mit Gremien, Verbänden, Räten. Da geht es oft hitzig hin und her.
Kölner Kirchenzeitung: Um was geht es denn in den Videokonferenzen und Gesprächen?
Woelki: Ich habe ja immer wieder betont, dass es mir wichtig ist, im Gespräch zu bleiben trotz unterschiedlicher Meinungen. Das ist, wie wohl alle Beteiligten merken, nicht so einfach, wie es klingt. Denn die Diskussionen werden mit einer großen Energie geführt. Ich habe ja zu offenen Worten aufgerufen, aber die Heftigkeit geht mir manchmal an die Nieren. Andererseits merke ich natürlich auch, wie wichtig den Beteiligten ihre Anliegen sind. Es geht um Aufarbeitung, Dialog, echte Beteiligung, Verantwortungsübernahme, auch moralische, und um Vertrauensverlust.
Es sind die richtigen Themen, wie ich meine. Darüber gehört geredet. Erst einmal jedoch will ich zuhören. Ich bete darum, dass wir miteinander diesen Dialog unter Christen und als Christen hinbekommen. Für mich ist das manchmal nicht einfach, ich glaube aber für meine Gegenüber auch nicht.
Kölner Kirchenzeitung: Die persönlichste Forderung ist ja die nach einem Rücktritt. Sie sollen moralische Verantwortung für Ihr Versagen in der Zeit als Erzbischof übernehmen. Warum sind Sie dieser Forderung noch nicht nachgekommen?
Woelki: Natürlich mache ich mir darüber viele Gedanken und bin darüber auch im Gespräch mit den Betroffenen, um die es ja in erster Linie geht. Wenn Sie so eine Untersuchung wie die mit Professor Gercke in Auftrag geben und Sie auch Ihre Amtszeit mit untersuchen lassen, dann fragen Sie sich schon: Was ist, wenn du selbst Entscheidungen getroffen hast, die gravierend falsch waren?
Das habe ich ja schon im Vorfeld gesagt, dass ich dann zu meiner Verantwortung stehe und bei gravierenden Vorwürfen auch den Heiligen Vater um Entpflichtung von meinem Amt gebeten hätte. Einiges würde ich sicher heute nicht mehr so tun, und das tut mir auch von Herzen leid.
Rechtlich hat die Gercke-Untersuchung bei mir nichts gefunden. Trotzdem haben viele Medien und auch viele Menschen die Forderung erhoben, ich soll moralische Verantwortung übernehmen und zurücktreten. Das habe ich mir auch vor der Beauftragung der Untersuchung überlegt. Was ist, wenn keine eindeutigen Beweise vorliegen, aber viele spüren, hier ist etwas in den letzten 70 Jahren grundsätzlich falsch gelaufen? Das war das, als Professor Gercke sagte, dass man sich in der ganzen Zeit um die Täter wesentlich mehr Gedanken gemacht hat und mehr Mitgefühl mit ihnen hatte als mit den Betroffenen.
Wie kann ich hier Verantwortung übernehmen? Verantwortung für einen fehlenden christlichen Geist der Achtsamkeit, des Mitgefühls für Schwache? Man kann Schuld auf sich laden, indem man ein System aufrechterhält, dass die Schuld anderer verschleiert, nur um nach außen gut dazustehen. Verantwortung hingegen beinhaltet auch Handeln in der Gegenwart und Zukunft. Für mich lautet die Antwort deshalb: Ich übernehme Verantwortung, indem ich alles dafür tue, dass es anders wird. Namen nennen, verhängnisvolle Abläufe ändern, Intervention und Prävention stärken, der Wahrheit ins Gesicht schauen. Das ist meine Verantwortungsübernahme, dass es kein "weiter so" mehr geben wird. Dazu stehe ich.
Kölner Kirchenzeitung: Aber vielen reicht das ja nicht!
Woelki: Wer auch immer an das Feld Aufarbeitung und Untersuchung von schuldhaftem Versagen herangeht, tritt allen auf die Füße, auch sich selbst. Ich bin oft gefragt worden: "Musst du so genau alles untersuchen lassen? Kannst du nicht einfach alles ruhen lassen?" Ich bin der tiefen Überzeugung, dass wir als Christen nicht die Zukunft gewinnen können, wenn wir uns nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Die Kirche soll wieder mehr dem entsprechen, wie Christus sie wollte. Das gilt auch für mich. Und da muss ich mich wie jeder prüfen: Wo habe ich Fehler gemacht? Wo muss ich um Vergebung bitten? Wo muss ich mich ändern? Keine schöne Aufgabe, aber eine mit Verheißung.
Kölner Kirchenzeitung: Und - was haben Sie da bei sich entdeckt?
Woelki: Mir fallen beispielshaft Personalentscheidungen ein. Da hatte ich manchmal ein schlechtes Bauchgefühl und habe trotzdem zugestimmt. Genau an dem Beispiel von Personalentscheidungen wird aber auch das weitere Dilemma deutlich. Sie dürfen als Personalverantwortlicher eben nicht nur auf ihr Gefühl hören. Sie dürfen aber auch nicht Gerüchte zum Entscheidungskriterium machen. Da kann man jeden Kandidaten mit einem schnell platzierten anonymen Gerücht zu Fall bringen und ihm übel mitspielen. Also brauchen Sie Beweise, zumindest Anhaltspunkte, denen man fundiert nachgehen kann. Die haben Sie oft nicht. Die Faktenlage drängt Sie, gegen Ihr Bauchgefühl zu stimmen.
Vielleicht hätte ich mich gegen bestimmte Kandidaten entscheiden müssen. Aber ich hatte keine Beweise, nur mein Bauchgefühl. Dazu müssen Sie in Leitungsämtern dauernd sehr, sehr viele Entscheidungen treffen. Da machen Sie Fehler. Eine bittere Wahrheit. Was mich aber sehr getroffen hat, war, dass wir in einem Fall den Medien nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet haben. Und trotzdem standen Falschbehauptungen in der Öffentlichkeit, die von Menschen dann auch geglaubt wurden. Das ist schlimm. Ich möchte die Wahrheit ans Licht bringen, auch wenn sie wehtut. Darauf können Sie sich verlassen.
Kölner Kirchenzeitung: Aber gerade das wird Ihnen nicht geglaubt. Trotz der Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung, trotz Ihrer Versicherung. Wie erklären Sie sich das?
Woelki: Sehen Sie, was hier wieder Verhängnisvolles passiert? Eine Konzentration auf eine Perspektive, eine Engführung. Die Betroffenen geraten aus dem Blickfeld. Was brauchen sie, damit sie mit der Hypothek, die wir auf sie geladen haben, besser leben können? Die Täter geraten aus dem Blickfeld. Was müssen wir tun, damit solche Leute erst gar keine Gelegenheit bekommen. bei uns ihr Unwesen zu treiben? Die Strukturen, die Missbrauch begünstigt haben, geraten aus dem Blickfeld.
Deshalb habe ich jetzt die Stabstelle "Aufarbeitung" gegründet, die alles das im Auge behalten und vorantreiben soll. Ich stelle mich meiner Verantwortung, aber wir müssen an vielen Stellen ansetzen, damit sexualisierte Gewalt keinen Platz mehr im Bistum hat. Damit Eltern wieder ein sicheres Gefühl haben in unseren Kindergärten, in unseren Schulen und Einrichtungen. Das ist der Auftrag, den wir vom Evangelium her haben. Eine neue Kultur des achtsamen Umgangs miteinander zu leben.
Kölner Kirchenzeitung: Wäre denn eine Untersuchung aus historischer, sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Sicht besser geeignet gewesen als allein aus rechtlicher Sicht?
Woelki: Wir waren die Ersten, die ein rechtliches Gutachten mit Namensnennung in Auftrag gegeben haben. Die Untersuchung stellt einen wichtigen Teil auf dem langen Weg von Aufarbeitung dar. Die Leistung dieser Untersuchung, aber auch die Grenzen einer rechtlichen Sicht liegen jetzt der Öffentlichkeit vor. Von diesen Erfahrungen können andere profitieren, indem sie zum Beispiel auch historische, psychologische oder sozialwissenschaftliche Methoden der Untersuchung anwenden oder sie kombinieren.
In Köln gibt es jetzt eine überprüfbare Herangehensweise und ein überprüfbares Ergebnis mit Empfehlungen, die es jetzt umzusetzen gilt. Dafür hat der Generalvikar einen Acht- Punkte-Plan vorgestellt. Die Intervention ist schon personell verstärkt worden, und die neu gegründete Stabstelle Aufarbeitung soll noch mehr Tempo in die Aufarbeitung und Schwung in die Veränderung von Strukturen bringen.
Auch hat die Untersuchung durch das saubere Herausarbeiten der Pflichtenkreise wirkliche Folgen gehabt. Und auch nach der Umsetzung des Plans werden wir nicht am Ende sein. Davon bin ich überzeugt. Das spiegeln mir auch die vielen Gespräche, die ich mit den Betroffenen führe. All diese Maßnahmen haben aber augenscheinlich den Vertrauensverlust, der immer wieder beklagt wird, nicht mindern können.
Kölner Kirchenzeitung: Was wollen Sie tun, um das Vertrauen zurückzugewinnen?
Woelki: Die Frage stelle ich mir oft - das können Sie mir glauben. Was ist da falsch gelaufen, was ist dein Anteil daran? Ich habe doch das Gutachten wie versprochen veröffentlicht, ich habe doch die Arbeit der Verantwortungsträger überprüfen lassen, mich eingeschlossen, habe Namen genannt. Also diese Frage stelle ich auch immer wieder meinen Gesprächspartnern. Was kann ich tun, dass Sie mir wieder Vertrauen schenken?
Viele erwarten solch eine Frage nicht von mir, aber die Antwort interessiert mich ernsthaft. Solch ein offenes Gespräch muss unter Christen möglich sein. Wertschätzend, aufbauend, aber auch mit bitteren Wahrheiten. Als Kirche sind wir im Bistum ein Leib mit vielen Gliedern, und wir gründen uns alle in Christus. Ich meine die Frage ernst, denn wir haben hier im Bistum sehr große Herausforderungen, die vor uns liegen und die wir nur gemeinsam bewältigen können, und ich bete täglich, dass wir das gemeinsam schaffen.
Kölner Kirchenzeitung: Warum geben Sie dann nicht quasi als vertrauensbildende Maßnahme den Forderungen nach Demokratie und echter Beteiligung nach?
Woelki: Auch darüber spreche ich in den vielen Gesprächen. Ich erlebe im Erzbistum Köln aber auch überall in Deutschland seit langem - und nicht erst seit der unabhängigen Untersuchung - dazu einen großen Gesprächsbedarf. Die Themen reichen von der künftigen Gestalt unserer Gemeinden, der Rolle der Frauen und der Priester. Und ich erlebe eine starke Energie mitzugestalten.
Die katholische Kirche ist - um mit einem Bild des Apostels Paulus zu sprechen - ja gleichsam ein Leib mit vielen Gliedern, mit unterschiedlichen Begabungen und verschiedenen Fähigkeiten. Sie ist von ihrem Selbstverständnis her keine demokratische Partei. Der Grund unseres Glaubens ist der eine Herr. Es ist seine Kirche. Er ruft uns alle in seine Gemeinschaft. Auf dieser Basis sehe ich große Chancen, die Beteiligung von Christen im Bistum, seien es Frauen oder Männer, zu stärken. In puncto Beteiligung sind noch lange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.
Kölner Kirchenzeitung: Wie soll denn die verstärkte Beteiligung aussehen?
Woelki: Wenn wir die Herausforderungen der Zukunft bewältigen wollen, müssen wir Zusammenhalten, denn es kommen auch unangenehme Entscheidungen auf uns zu. Das haben alle jetzt schon bei den Etappen des Pastoralen Zukunftsweges gemerkt. Es wird andere Formen von Gemeinde und Pfarreien geben. Es wird aber auch Gemeinden geben, in denen Laien in Form von Teams von Verantwortlichen den Pfarrer in seiner Arbeit vor Ort unterstützen. Es braucht da ein neues Selbstbewusstsein und mehr Verantwortung der Laien als Laien, den Glauben sichtbar zu leben und zu verkünden.
Allerdings werden viele auch auf etwas verzichten müssen. Wir werden zukünftig weder das Geld noch das Personal haben, um alles aufrechterhalten zu können. Da wird aber auch die Frage kommen: Warum müssen wir verzichten und andere nicht? Wenn wir echte Beteiligung wollen, dann müssen wir auch in diesen Konflikten gemeinsame Lösungen finden. Diese Lösungen werden ohne schmerzhaften Verzicht nicht möglich sein.
Allerdings stehe ich auch hier als Bischof in der Letztverantwortung. Ich vertraue dann darauf, dass wir uns als Christen als der eine Leib Christi sehen. Und ich vertraue auf die gute Beratung aller Gremien und insbesondere des Diözesanpastoralrats, der sich repräsentativ aus allen Gruppen in unserem Bistum zusammensetzt.
Kölner Kirchenzeitung: Reicht das, um das verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen?
Woelki: Wer zusammen im Weinberg des Herrn arbeitet, wer gemeinsam etwas schafft, wer um des höheren Zieles willen auch mal auf etwas verzichtet - diese gemeinsamen Erfahrungen werden uns als Christen im Bistum zusammenbringen. Darauf hoffe ich, und dafür bete ich. Die unabhängige Untersuchung war eine Zäsur. Danach wird sich sehr, sehr viel verändern.
Es ist mir deutlich geworden, dass wir insgesamt einen neuen Umgang miteinander anstreben müssen. Das ist auch schon in das Zielbild des Pastoralen Zukunftsweges eingeflossen. Da ist eine Haltung beschrieben, die im Gegenüber einen "Tempel des Geistes Gottes" (vgl. l Kor 3,16f) erkennt. Eine neue Kultur des achtsamen, wertschätzenden Umgangs miteinander. Gegenseitiges Hören, Offenheit und Neugier. Eine einfühlsame und menschliche Correctio fraterna.
Das Gift der Polarisierung, dieses ausschließende "Du oder ich" müssen wir als Christen überwinden. Gerade das kommende Pfingstfest mit den Verheißungen des Heiligen Geistes, der die Kirche zusammenschweißt, leitet und im Sinne Jesu erneuert, kann uns auf diesem Weg neue Kraft geben. Das ist der Weg, den wir zusammen neu gehen müssen. Ich will als Bischof meinen Teil dazu beitragen