domradio.de: Man wünscht sich ein "frohes neues Jahr". Niemand würde auf die Idee kommen, sich ein "frohes fremdes Jahr" zu wünschen, obwohl ja beides stimmt. Wie ist das in der Bibel, wie ist da das Fremde besetzt?
Werner Kleine (Pastoral- und Glaubensreferent der katholischen Citykirche Wuppertal): Das Fremde ist eine Urerfahrung, die der Bibel eingepflanzt ist. Sie ist vor allen Dingen darin begründet, dass das Volk Israel die Urerfahrung des Fremdseins in Ägypten gemacht hatte. Sie waren Fremde, sind aus Ägypten ausgewandert und in ein fremdes Land gegangen. Es ist ein Topos, den wir durch das Alte und Neue Testament hindurch haben. Im Neuen Testament heißt es: "Unsere Heimat ist im Himmel. Wir hier sind auf der Erde in der Fremde." Das Fremdsein selber, das Gefühl des Fremdseins, gehört in die christliche Existenz hinein.
domradio.de: Ist das Fremde also etwas, das überwunden werden muss oder wie wird das Fremde in der Bibel empfunden?
Kleine: Das Fremdsein selbst ist eine Urerfahrung, die da ist und die sich dahingehend auswirkt, dass man sich mit dem was ist, nicht zufrieden geben kann. Es ist dieses Bewusstsein, dass uns hier auf der Erde nichts gehört. Wenn wir uns die gegenwärtige politische Diskussionen in der Welt anschauen, hören wir oft: "Das ist unser Land!" Wer hat das denn gesagt? Wer hat gesagt, dass das "unser" Land ist? Wir sind in dieses Land hineingeboren und suggerieren uns jetzt, dass wir einen Besitzanspruch darauf hätten. Dabei ist es uns wenn überhaupt nur verliehen worden, es ist uns zum Wohnort geworden. Die christliche Idee - die christlich-jüdische Idee - ist folgende: "Mensch, ruh dich nicht auf dem aus, was Du denkst, besitzen zu können, sondern sei Dir bewusst, dass Dein Weg immer weiter nach vorne geht. Dein Ziel wird der Himmel sein und deswegen bist Du hier in der Fremde."
domradio.de: Sie sprachen es an: Beim Wort "fremd" denkt man automatisch an Flüchtlinge. Das Zusammenleben mit fremden Menschen macht auf der einen Seite natürlich Probleme und ist eine Herausforderung. Auf der anderen Seite steht aber auch die Forderung: Wir Menschen sind alle gleich. Wie sieht die Bibel das Zusammenleben mit "den Fremden"?
Kleine: Es gibt dort grundlegend zwei Linien: Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament gibt es eine deutliche Motivation, fast schon ein Gebot, zur Gastfreundschaft. Im Hebräerbrief im Neuen Testament heißt es etwa: "Manche haben ohne es zu wissen, den fremden Engel beherbergt." Die Idee ist also, aus der Erfahrung des eigenen Fremdseins heraus gerade den Fremden gegenüber, gastfreundlich zu sein; sie nicht direkt an der Tür abzuweisen. Abraham hat zum Beispiel durch die Bewirtung der Fremden an der Eiche von Mamre seine ultimative Gotteserfahrung gemacht. Die Idee, die da sichtbar wird: "Nehmt die Fremden erst mal an. Sie bleiben Fremde, aus ihnen müssen nicht unbedingt Freunde werden." Das ist die eine Linie, die wir in der Heiligen Schrift haben.
Auf der anderen Seite gibt es in der Heiligen Schrift sowohl im Alten als auch im Neuen Testament auch immer die Idee von der Achtung der eigenen Identität: und zwar sowohl der Identität des Fremden, als auch der eigenen Identität. Deswegen bin ich skeptisch, wenn man nun daher geht und sagt, man müsse nun "integrieren" und alle so tun, als gäbe es keine Unterschiede. Ich finde, der Frieden entsteht auch dadurch, dass wir nebeneinander in die Zukunft gehen. Das bedeutet: Ich muss den anderen auch anders sein lassen können.
domradio.de: Gibt es dazu in der Bibel auch Beispiele?
Kleine: Wenn wir in das Neue Testament schauen, vor allen in die Wundererzählungen in dem Evangelium. Da hat man als Idee im Kopf, dass Jesus immer wieder in seine Nachfolge und in seine Gemeinschaft ruft. Das stimmt aber nicht. Es gibt Beispiele von Wunderheilungen, wie etwa die Geschichte des Besessenen von Gerasa, der geradezu von Jesus abgewiesen wurde und dem Jesus sagte: "Jetzt geh zu Deinen Verwandten; nicht in meine Nachfolge, nicht in meine Gemeinschaft, sondern Du musst in Deine familiäre Gemeinschaft zurückkehren." Oder der Blindgeborene im Johannesevangelium, der erfährt, dass er in seine Gemeinschaft zurückkehren muss. Das heißt, wir haben dort die deutliche Forderung, dass nicht alle gleich behandelt werden, sondern die menschlichen Leben sind unterschiedlich, sowie ihre Bedürfnisse und Aufgaben. Also die Idee "Wir sind eine große Gemeinschaft" ist von der Bibel so nicht gedeckt. Gedeckt ist aber, dass jeder Mensch die Fülle des Lebens erhalten soll.
domradio.de: Was ist denn mit Stimmen, wie zum Beispiel aus Polen, die sagen: "Wir sollten keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, um den katholischen Lebensstil unseres Landes nicht zu gefährden." Was bedeutet das, was die Bibel zum Fremdsein sagt, für diejenigen, die nun ihre Überzeugungen, ihre Identität gegen Fremde verteidigen wollen?
Kleine: Die Frage ist, ob das polnische Volk, seine katholische Identität nicht gerade dadurch gefährdet, dass es Flüchtlinge nicht mehr hineinlässt, dass es nicht mehr gastfreundlich ist und die Nächstenliebe üben will. Die Frage ist auch, ob dadurch nicht gerade die katholische Identität aufs Spiel gestellt wird. Wir müssen uns fragen: Wie gehen wir mit Flüchtlingen um? Wie behandeln wir sie und uns? Was ist das Ziel der ganzen Geschichte?
Zunächst einmal: Zu uns kommen Menschen, die Tod, Leid, Krieg, Verfolgung hinter sich haben. Da ist es ja geradezu eine Notwendigkeit, schon aus humanitären Gründen, als Christ aber aus christlichen Gründen, diesen Menschen Hilfestellungen zu geben. Was passiert in Zukunft? Werden die nun alle hier bleiben oder zurückgehen? Die Vergangenheit lehrt, wenn man an den Balkankrieg Anfang der 1990-er denkt, dass viele Menschen in ihre Heimat zurückkehren werden, wenn die Heimat wieder befriedet ist. Das sind ja auch Dinge, die man beachten muss.
Das zweite ist, dass es ein Vorurteil über die Menschen aus dem Nahen Osten gibt: nämlich dass das lauter Muslime seien. Der Großteil ist muslimisch, ja. Aber 20 Prozent der Flüchtlinge sind Christen. Ein Großteil davon ist sogar mit Rom uniert, sie sind also in dem Sinne römisch-katholisch. Wo wird die Identität eines sich katholisch definierendes Volkes gefährdet, wenn Katholiken mit ins Land kommen? Das soll mir der polnische Staat mal erklären.
domradio.de: Nicht nur andere Menschen sind uns fremd, sondern auch Gott ist uns oft sehr fremd. Wie ist es damit?
Kleine: Gott selbst muss der Fremde bleiben, sonst hätten wir ihn ja vereinnahmt. Ich selbst bin immer skeptisch, wenn ich Kirchenvertreter, geweihte und ungeweihte, höre, die glauben zu wissen, was Gott will. Bei der Rede "Gott will, dass ..." werde ich skeptisch. Beim Propheten Jesaja heißt es: "Eure Gedanken sind nicht meine Gedanken und Eure Worte sind nicht meine Worte." Gott ist und bleibt der komplett und vollständig Andere. Er wird uns immer fremd bleiben. Da, wo wir glauben, Gott begriffen zu haben, ihn für uns verfügbar gemacht zu haben, da wo wir glauben, vielleicht sogar eine Gottesbegegnung gemacht zu haben, kann das sein. Aber wir müssen uns vielleicht auch die Frage stellen, ob wir uns da nicht selbst etwas zu Recht reden. Gott ist und bleibt der für uns Fremde.
Das Interview führte Christoph Paul Hartmann.