Der Limburger Bischof sprach von einem "desaströsen Verhalten" und erwähnte in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch Benedikt XVI. Bätzing räumte am Freitagabend vor Teilnehmern eines Gottesdienstes in Trier ein, dass die katholische Kirche auch unter treuen Anhängern massiv an Vertrauen eingebüßt habe. Angesichts dessen, was die Münchner Studie zutage gefördert habe, müsse er eingestehen: "Manchmal schäme ich mich auch, dass wir eine solche Vergangenheit gehabt haben."
Bätzing betonte: "Vertuscht, verdeckt wurde lange genug." Jetzt sei die Zeit der Wahrheit. Denn nur sie werde Freiheit bringen und möglicherweise auch neues Vertrauen schaffen.
Führungsversagen im Umgang mit Missbrauchstätern
Das am Donnerstag vorgestellte Gutachten bescheinigt mehreren Münchner Erzbischöfen und weiteren Angehörigen der Bistumsleitung Führungsversagen im Umgang mit Missbrauchstätern sowie fehlende Sorge für die Geschädigten. Die Studie erhebt in diesem Zusammenhang auch Vorwürfe gegen den früheren Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger, der von 1977 bis 1982 dem Erzbistum München-Freising vorstand.
Bätzings Amtskollege, der Würzburger Bischof Franz Jung, zeigte sich offen für eine staatlich eingesetzte Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung von Missbrauch. Bischof Jung sagte der "Main-Post" (Samstag), eine staatlich eingesetzte Wahrheitskommissionen könne die trotz aller redlicher Bemühungen der Bistümer stets neu geäußerten Zweifel an der Unabhängigkeit der Aufarbeitung zerstreuen. Außerdem werde so die Verantwortung in die Hände des Staates und der geltenden Gesetzgebung gelegt. So könnte gezeigt werden, dass Kirche keine Sonderwelt sei.
Kurschus: Systemische Gründe
Zuvor hatte Jung bereits als erster bayerischer Bischof nach Kardinal Reinhard Marx auf das Missbrauchsgutachten reagiert. Im Fokus stünden nun die noch lebenden Verantwortungsträger: "An ihnen ist es, sich zu den dargestellten Vorgängen zu verhalten und sich ihrer damit einhergehenden persönlichen Verantwortung zu stellen." Der Bischof erinnerte zuerst an das Leid der Betroffenen. In dem Gutachten werde das systemische Versagen von Kirche einmal mehr beschrieben.
Auch die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, sieht systemische Gründe. "Es gibt kirchliche Muster und Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen", sagte Kurschus der "Rheinischen Post" (Samstag). "Das sind in der evangelischen Kirche andere als in der katholischen Kirche." EKD-weit sei eine wissenschaftliche Studie angestoßen worden, "die - das ist uns wichtig - von unabhängigen Stellen vorangebracht und ausgewertet wird".
Betroffenensprecher: Papst Benedikt hat noch immer nicht verstanden
Auch der Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, hat die Reaktion des emeritierten Papstes Benedikt XVI. auf das Münchner Missbrauchsgutachten kritisiert. "Wenn Papst Benedikt auf 82 Seiten ausführt, es sei kein sexueller Missbrauch im engeren Sinne, wenn sich ein Täter vor einem Minderjährigen entblößt, onaniert oder pornografische Inhalte zeigt, dann hat er es immer noch nicht verstanden", sagte Norpoth dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland" (Samstag). Offenbar wolle Benedikt nicht wissen, was in seiner eigenen Kirche passiert sei.
Die Ignoranz wiege umso schwerer, weil Benedikt als Präfekt der Glaubenskongregation ab 1982 zwei Jahrzehnte lang für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegenüber Minderjährigen für die Weltkirche zuständig gewesen sei, sagte der Sprecher. Wenn er jetzt für sich neu definiere, was überhaupt sexueller Missbrauch von Klerikern bedeute, "dann lässt das sehr tief auf den mangelnden Aufarbeitungswillen der Kirche blicken".
Das Gutachten macht Norpoth zufolge erstmals deutlich, wie Vertuschung über Bistumsgrenzen hinweg funktioniert habe. Nicht nur einzelne Ortsbischöfe, sondern Personen mit Rang und Namen in der Weltkirche hätten schwerwiegende Fehler gemacht. "Die Sprengkraft des Gutachtens besteht darin, dass sich einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, Joseph Ratzinger, selbst sein Lebenswerk zerstört hat."
Katholische Jugend fordert andere Strukturen und Lehre
Nach der Vorstellung des Gutachtens fordert der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BKDJ) grundlegende Änderungen von Strukturen und Lehre sowie mehr Opferschutz. "Eine ernsthafte Aufarbeitung darf nicht zum Ziel haben, die Glaubwürdigkeit der Kirche wiederherzustellen, denn dann steht wieder die Institution Kirche im Fokus", bestehende Machtsysteme würden gestützt, sagte der BDKJ-Bundesvorsitzende Gregor Podschun am Samstag in Düsseldorf. "Verantwortliche sollten endlich auf das hören, was Betroffene seit Jahren sagen und es umsetzen."
Dieses Gutachten sowie bereits frühere veröffentlichte Gutachten belegten eine mangelnde Aufarbeitung und systematische Vertuschung sexualisierter Gewalt, teilte der Dachverband der katholischen Jugendverbände mit. Ein "weiter so" sei weder personell noch strukturell möglich, betonte Podschun. Der Reformprozess Synodaler Weg biete die Chance auf "eine echte Veränderung", wenn "die Synodalen das kirchliche System von Grund auf ändern, anstatt es zu schützen". "Vom Vatikan sind Systemänderungen leider weiterhin nicht zu erwarten", kritisierte der BDKJ-Bundesvorsitzende.
Des Weiteren plädiert der Dachverband für personelle Konsequenzen. Dabei gehe es einerseits um persönliche Verantwortung bei Fehlverhalten und andererseits auch um moralische und systemische Verantwortung, wenn kein juristisches Fehlverhalten nachgewiesen wurde. Außerdem brauche es einen rechtlichen Rahmen, in dem der Opferschutz mehr wiege als die Persönlichkeitsrechte der Täter, forderte Podschun. Es könne nicht sein, "dass der Rechtsstaat der katholischen Kirche Sonderrechte einräumt, die Leid verursachen".
Mahnwache in Essen
Der Betroffenensprecher forderte die deutschen Bischöfe auf, endlich deutlich zu formulieren, dass sie Schuld auf sich geladen hätten. Sie müssten sich eingestehen, "dass sie mit ihrem eigenen Handeln das Leben von Menschen zerstört haben und müssen sich dafür entschuldigen", sagte Norpoth. Er wolle keine Rücktritte. Die Verantwortlichen sollten ihre Macht nutzen und die systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt abbauen. Sie sollten sich dabei nicht durch ein eventuelles Machtwort aus Rom einschüchtern lassen.
Betroffene sexualisierter Gewalt hielten am Freitagnachmittag eine Mahnwache vor dem Essener Dom. Nach Bistumsangaben versammelten sich rund 50 Menschen. Bischof Franz-Josef Overbeck und Generalvikar Klaus Pfeffer hätten das Gespräch mit ihnen gesucht. Das Missbrauchsgutachten beschäftigt sich auch mit einem Priester aus dem Bistum. Er verging sich im Ruhrbistum und in Oberbayern über Jahre an mindestens vier Orten an Minderjährigen. Dennoch wurde er immer wieder in der Seelsorge eingesetzt.