DOMRADIO.DE: Am vergangenen Passionssonntag wurden in vielen Kirchen die Kreuze und Jesusbilder mit einem Tuch verhüllt, was bis zur Kreuzverehrung am Karfreitag so bleiben wird. Auf den ersten Blick ergibt dieser Brauch eigentlich keinen Sinn, zumal doch gerade in diesen Wochen das Symbol für das Leiden und Sterben Jesu im Fokus steht. Warum also diese Verhüllung?

Dr. Dominik Meiering (Domkapitular und Leitender Pfarrer in Köln-Mitte): Ich werde nie vergessen, wie sehr mich im Sommer 1995 der "verhüllte" Reichstag von Christo und seiner Frau Jeanne-Claude begeistert hat. Zwei Wochen lang kamen Menschen aus der ganzen Welt nach Berlin, um diesen strahlenden und gänzlich mit Stoffbahnen verpackten Baukörper zu bewundern. Dabei habe ich etwas gelernt, was mit der Fastenzeit und Ostern zu tun hat: Wenn du etwas verhüllst, wird es besonders sichtbar. Es klingt wie ein Paradox. Wir verhüllen etwas, um etwas sichtbar zu machen. Aber darin liegt gerade der Reiz. Und es gehört zum Menschsein: Wir verpacken Geschenke, hüllen uns in Kleidung, und auch unsere Wohnungen und Autos sind Hüllen, die manchmal mehr von uns erzählen, als wir preisgeben wollen.

In der Kirche enthüllen wir an Karfreitag das Kreuz, das wir vorher verhüllt haben. Dabei geht es um die Frage, ob diese Hülle etwas von dem Unzugänglichen, Verborgenen erzählen kann. Wir Christen nennen Gott den Ewigen und Unendlichen, der nicht in Zeit und Raum hineinpasst. Dieser Gott wird aber trotzdem erfahrbar in diesen Hüllen. In der Liturgie beispielsweise gibt es Weihrauch, kostbare Gewänder, Prozessionen, wunderbare Musik – all das sind Dinge, die uns vielleicht deuten können, wie Gott ist. Sie sind nicht selbst Gott, aber sie weisen darauf hin, dass Gott verborgen gegenwärtig ist. Ich würde mir wünschen, dass wir eine große Sensibilität für das Dahinterliegende entwickeln und nicht beim Vordergründigen hängen bleiben, sondern anhalten und nachdenken, so wie es auch die Absicht von Christo und Jeanne-Claude war. Vielleicht entdecken wir dann Dinge, die wir bisher noch gar nicht wahrgenommen haben, die aber unendlich kostbar sind.

DOMRADIO.DE: In Ihrer Doktorarbeit haben Sie sich mit der Faszination des Bedeckten, den Blicken Entzogenen, nicht Sichtbaren und auch nicht Darstellbaren beschäftigt und damit, wie sehr damit gerade auch in den drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam "gespielt" wird. Können Sie über das verhangene Kreuz hinaus Beispiele nennen, wo dem bewussten Verdecken eine besondere Rolle zukommt?
Meiering: Das Verhüllen ist nicht nur eine anthropologische Grundkonstante, sondern findet sich als Motiv in der Tat auch in den Offenbarungsreligionen. Dahinter steckt die Grundidee, dass wir über Gott eben nur in Hüllen sprechen können, er sich unserem Zugriff entzieht. Von daher ist es nur folgerichtig, dass es in der jüdischen und islamischen Tradition keine Gottesbilder gibt. Stattdessen finden wir zum Beispiel im Islam die Kaaba in Mekka, ein quaderförmiges Gebäude im Innenhof der Al-Haram-Moschee. Dieser wichtigste Wallfahrtsort des Islam ist ein schwarzer Stein, den wir alle vermutlich noch nie gesehen haben. Denn er ist umgeben von einer großen würfelförmigen Stoffskulptur, einem schwarzen mit Brokatfäden und Schriftzeichen verzierten Samtstoff. Die Menschen ziehen bei ihrer Wallfahrt um diese Kaaba herum, ohne genau zu sehen, was sich darin befindet. Die Hülle, der Stoff, ist ein Zeichen für das Heilige, das sich dahinter findet, und für die geheimnisvolle Geschichte, die sich an diesem Ort gemäß dem muslimischen Glauben ereignet hat.

Und so wie in der katholischen Kirche im Tabernakel ein Vorhang hängt und über dem Speisekelch ein Mäntelchen zu finden ist, so gibt es auch in der Synagoge einen Vorhang vor dem Thoraschrein. Die Thorarollen mit den heiligen Texten sind in Tücher gewickelt, was nicht nur ihrem Schutz dient, sondern eben auch ein Hinweis darauf ist, dass hier etwas Geheimnisvolles zu ergründen ist: Gott, der sich zeigt, aber eben im Verborgenen.

DOMRADIO.DE: Gerade die Heilige Schrift ist voll mit Geschichten des Ver- und Enthüllens. Stoffliches – Tücher, Gewänder und Vorhänge – kommt immer wieder vor. So reichte beispielsweise die Berührung des Gewandes Jesu aus, um geheilt zu werden, heißt es von der blutflüssigen Frau. Oder: "Der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke" wird in der Passionsgeschichte berichtet…

Meiering: Besonders im Alten, aber auch im Neuen Testament tritt Gott immer in Verhüllungen auf: in der Wolken- oder der Feuersäule, im brennenden Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt, im Wasser, im Brausen des Windes, im Atem… Hier spürt man: Das alles sind Erscheinungsweisen Gottes, die nicht greifbar sind. Aber dennoch ist Gott da, seine verborgene Gegenwart ist erfahrbar.
Und was den Vorhang in der Passion angeht: Alles steht und fällt mit diesem Vorhang im Tempel zu Jerusalem. Als das Volk Israel in Jerusalem sesshaft wird, baut König Salomo dem Herrn ein Haus, den Tempel. Und das Allerheiligste des Tempels ist verschlossen mit einem Vorhang – das nimmt Bezug auf das Bundeszelt, das mit dem Volk Israel durch die Wüste zog. Als im Jahr 70 n. Chr. der römische Feldherr Pompeius bei der Eroberung von Jerusalem in das Allerheiligste des Tempels eintrat, zog er den Vorhang des Tempels zur Seite und war überaus überrascht. Denn eigentlich hatte er hinter dem Vorhang eine Götterstatue vermutet, wie sie damals von den Römern verehrt wurden. Was aber fand er? Nichts! Und das ist der entscheidende Punkt. Denn der Vorhang selbst ist das Bild des gegenwärtigen Gottes.

Und nun zur Erzählung des Todes Jesu im Neuen Testament. Denn während für das Judentum Gott der Unbegreifliche und Unzugängliche, Ewige und Unendliche ist – dafür steht ja der Vorhang im Tempel zu Jerusalem mit dem leeren Allerheiligsten dahinter – überformt das Christentum nun dieses Bild in dem Augenblick, als Jesus am Kreuz stirbt. Der Vorhang im Tempel zerreißt von oben bis unten in zwei Teile. Anders formuliert: Nun wird Gott wirklich und wahrhaftig sichtbar: in der Person Jesu Christi – und zwar in seinem Sterben, in seiner unbedingten Liebe, die er in seinem Tod zeigt. Und das ist auch der Grund, warum wir am Karfreitag nach dem Vorbild des sich zerreißenden Vorhangs des Jerusalemer Tempels den "Vorhang" von den Kreuzen lösen und eine feierliche Kreuzenthüllung veranstalten.
DOMRADIO.DE: Wenn Stoffe und Tücher ein Bild für die Gegenwart Gottes sind, dann ist ja indirekt ganz oft von der Präsenz Gottes die Rede…

Meiering: Genau. Gerade im Neuen Testament findet man unendlich viele Geschichten, in denen von Tüchern und Stoffen, also vom geheimnisvollen Handeln Gottes die Rede ist. So stehen auch am Anfang und am Ende des irdischen Lebens Jesu Tücher: zunächst Windeln, in die das Kind wie in einer schützenden Hülle eingewickelt in der Krippe lag. Später ist es dann das Leichentuch, in das der leblose Leichnam gehüllt wurde. Wie bei der Geburt birgt das Tuch auch nach dem Tod den Körper, umfängt, umschließt und verhüllt ihn. In der Tradition der Kirche ist man sich dieses heilsgeschichtlichen Zusammenhangs immer bewusst gewesen. So lagen auf dem Altar immer drei Altartücher, die das Gewand Jesu und seine Leichentücher symbolisierten. Man hatte demnach ein genaues Gespür dafür, dass es mit der Stofflichkeit des Glaubens eine tiefgründige Bewandtnis hat. Unter der Geborgenheit des Tuches geschieht das, was wir nur glaubend erfassen können – nicht aber wissen.

DOMRADIO.DE: Es gibt eine ganze Reihe auch an zeitgenössischen Künstlern, für die Stoffe immer ein unverzichtbarer Bedeutungsträger waren. Sie nannten bereits den verhüllten Reichstag von Christo. Aber ich denke auch an den Filzanzug von Joseph Beuys aus dem Jahr 1970, an das Große Schimpf-Tuch von Sigmar Polke aus dem Jahr 1968, an das "Hauthemd" von Claudia Mercks in der Propsteikirche Kornelimünster oder an das Mantelprojekt "Belonging & Beyond" von Veronika Moos-Brochhagen in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol von 2005. Gibt es etwas, was alle diese sehr unterschiedlichen Kunstwerke miteinander verbindet?
Meiering: Was ist das Leben anderes als verhüllen? Jedes Kunstwerk – soweit es sich denn um Kunst handelt – ist nie nur eindeutig, sondern immer ambivalent und vielschichtig interpretierbar. Alles andere ist Kunsthandwerk. Ein wirkliches Kunstwerk bedarf immer dieses Sichtbaren und des Dahinterliegenden, was man nicht sehen kann. Und das gilt für jede Kunst: für die Musik, die Architektur, die Plastik oder Malerei, auch für die Literatur und Poesie. Ich kann den Satz "Ich liebe dich" einfach nur aussprechen. Aber richtig klangvoll wird er doch erst, wenn er wunderschön gesungen oder seine Bedeutung künstlerisch mit einem Bild unterstützt wird. Es braucht nun mal mehr, damit das, worum es geht, glaubwürdig wird.

Kardinal Meisner hat einmal gesagt, alle seine Predigten zu Karfreitag seien nichts wert verglichen mit der Matthäuspassion von Bach. Er hat verstanden, dass menschliches Verstehen nicht nur mit Sprache, kognitivem Denken und intellektuellem Wissen erreicht werden kann, sondern dass es darauf ankommt, als Geist-Leib-Seele-Einheit, die wir ja sind, eine Erfahrung zu machen. Und die reicht eben weit über das hinaus, was wir mit Sprache zum Ausdruck bringen können. Wir brauchen andere Texturen, die uns das Dahinterliegende erfahrbar machen und sehen lassen.

DOMRADIO.DE: Demnach hilft ein Bild oder ein Symbol, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, gerade wenn es um religiöse Riten oder den Glauben, der für viele abstrakt bleibt, geht. Und immer waren die Menschen, Sie sagen es, auf das Dahinter – die Wahrheit hinter dem Bild, den Blick hinter den Vorhang – neugierig. Dabei heißt Glauben ja gerade: das Unbegreifliche nicht zu sehen, nie die letzte Gewissheit zu erlangen. Welche Kernbotschaft steckt für Sie im Verhüllen?
Meiering: Die kostbarsten Geschenke – zum Beispiel Juwelen oder Parfüm – werden immer mit aufwendigen Verpackungen verhüllt. Warum eigentlich? Weil es eben nicht nur um irgendwelche Geschenke geht, sondern sie die Geschichte von einer Beziehung erzählen: von etwas Geheimnisvollem und nicht Vordergründigem – was der andere auch spürt. Und so wird mit einem Mal etwas in seiner ganzen Dimension sinnlich erfahrbar, was vielleicht vorher nur ein nackter Satz war. Worüber man nicht sprechen kann, sollte man schweigen, heißt es doch. Wir sind mit unserem Reden sehr schnell am Ende, wenn wir nicht durch verhüllende Zeichen, Handlungen und Riten anfangen, ins Gespräch zu bringen, was wir eigentlich sagen wollen.
Und dazu dient uns auch die Liturgie. Denn natürlich wissen wir nicht, wie wir von Gott oder wie wir mit ihm reden sollen – er ist der unendlich Ferne. Und gleichzeitig müssen wir auf menschliche Art und Weise versuchen, mit ihm zu sprechen, weil er der unendlich Nahe ist. Das bezeugt uns Jesus Christus in seiner Menschwerdung. Und deshalb haben wir in der Liturgie etwas zum Riechen: den Weihrauch. Wir haben etwas zum Schauen: den Glanz der Gefäße und brennenden Kerzen. Wir haben etwas zum Fühlen: die Schönheit der Gewänder. Wir haben etwas zum Hören: den Klang der Orgel und den Gesang der Stimmen. Und wir haben etwas zum Schmecken: den Leib und das Blut Christi, gewandelt aus Brot und Wein. Alle unsere Sinne werden angesprochen und aktiviert, um uns für die verborgene Gegenwart Gottes zu öffnen und zu sensibilisieren. Auf diese Weise können wir Gott als den Immanuel, den "Ich bin da-Gott" in unserem Leben kraftvoll erfahren.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.