Welche Botschaften sendet Franziskus zum Thema Migration?

Eine Frage der Würde

Seine erste Reise führte Papst Franziskus auf die Insel Lampedusa. Flucht und Migration ist auch Thema seiner Reise nach Marseille. Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst erklärt, welche Botschaft Papst Franziskus damit sendet.

Papst trifft Überlebende des Bootsunglücks vor Lampedusa  (dpa)
Papst trifft Überlebende des Bootsunglücks vor Lampedusa / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Woher kommt es denn, dass Papst Franziskus ein so großes Interesse an diesem Thema Flucht und Migration hat? 

Stefan Keßler / © Kirchenzeitung
Stefan Keßler / © Kirchenzeitung

Stefan Keßler (Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland): Papst Franziskus steht da in einer Tradition. Auch seine Vorgänger haben sich immer wieder deutlich für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten eingesetzt. Außerdem ist das Gehen an die Ränder der Gesellschaft eine alte Tradition des Jesuitenordens, dem Papst Franziskus angehört und der sich seit 1980 stark für die Rechte von Migranten und Flüchtlingen einsetzt. 

DOMRADIO.DE: Seine erste Reise hat Franziskus nach Lampedusa geführt und von dort sehen wir gegenwärtig wieder sehr schreckliche und aufrührende Bilder. Warum ist diese Insel aktuell Ziel so viele Flüchtlinge? 

Keßler: Das ist die geografische Situation. Der Weg von der nordafrikanischen Küste auf den europäischen Kontinent geht am kürzesten über das Mittelmeer in Richtung Lampedusa. Mit anderen Worten: Es ist ein geografischer Zufall, dass es gerade Lampedusa ist und nicht ein anderer Ort. 

DOMRADIO.DE: Was hat denn der Papstbesuch damals auf Lampedusa bewirkt? Was für eine Botschaft ging von seiner Ansprache auf dieser Insel aus? 

Stefan Keßler

"Bei Flüchtlingen darf man nicht von Zahlen reden, man muss die Menschen in den Blick nehmen."

Keßler: Meine Lieblingsstelle aus der Rede des Papstes ist, als er sinngemäß sagte: Bei Flüchtlingen darf man nicht von Zahlen reden, man muss die Menschen in den Blick nehmen. Es handelt sich um Menschen mit individuellen Schicksalen, mit individuellen Anliegen, aber auch mit individuellen Fähigkeiten.

Und er sagte, dass wenn man diesen Menschen beim Betreten des europäischen Bodens mit Würde begegnet und ihnen die Würde nicht nimmt, dann werden sie selbst weiterhin die Würde und die Menschenrechte verteidigen. Diese Botschaft ist seitdem weiter gegangen, wird im politischen Diskurs aber leider immer wieder vergessen. Die Aufgabe von Organisationen wie der unseren ist, diese Botschaft am Leben zu erhalten und weiter zu vermitteln. 

DOMRADIO.DE: Am Sonntag hat die italienische Ministerpräsidentin Meloni zusammen mit der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Lampedusa besucht. Sie wollen nun auf einen verstärkten Einsatz der Grenzschutzagentur Frontex setzen. Ist das der richtige Weg? Was sagen Sie als Jesuiten-Flüchtlingsdienst dazu? 

Stefan Keßler

"Sie haben die alte Methode des Abschreckens und der Abwehr aus der Mottenkiste geholt."

Keßler: Nein, das ist nicht der richtige Weg. Frau von der Leyen und Frau Meloni haben die alte Methode des Abschreckens und der Abwehr aus der Mottenkiste geholt, die in all den Jahren, in denen wir das beobachten, nie funktioniert hat.

Man muss einfach in Rechnung stellen, dass Tunesien, mit denen ja die Europäische Union kooperieren will, im Augenblick selbst eine Abschreckungs-, eine Abwehrstrategie fährt und die Menschen schrecklichsten Menschenrechtsverletzungen aussetzt. Die Menschen haben keine andere Wahl, als aus Tunesien wegzugehen und zu versuchen, nach Europa zu kommen. 

DOMRADIO.DE: Am Freitag wird Franziskus die französische Hafenstadt Marseille besuchen. Es wird bei dem Besuch auch um Migration gehen und um kulturelle Verständigung. Gerade das scheint in Europa momentan die größte gesellschaftliche und politische Herausforderung zu sein. Was erwarten Sie denn jetzt von Papst Franziskus und seinen Ansprachen in Marseille? 

Keßler: Ich hoffe, dass Papst Franziskus gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten und Diskussionen deutlich zu verstehen gibt, dass es im ureigensten Interesse Europas und der Welt ist, alle Menschen mit Würde zu behandeln, allen Menschen ihre Würde zu geben. Man darf Menschen nicht als Zahlen oder als Massenphänomen begreifen. 

DOMRADIO.DE: Was muss denn Ihrer Meinung nach geschehen, dass in Europa, aber auch hier bei uns in Deutschland eine funktionierende Infrastruktur geschaffen werden kann, die den Betroffenen auch wirklich hilft? 

Stefan Keßler

"Wir brauchen eine Zusammenarbeit der Politik mit der engagierten Zivilgesellschaft."

Keßler: Ich hatte ja vorhin schon den Begriff Mottenkiste benutzt. Die Diskussion über Obergrenzen oder ähnliches ist auch ein Griff in die Mottenkiste. Wir brauchen stattdessen eine Politik, die auch Kapazitäten vorhält und nicht erst mühsam hochzieht und dann wiederum abbaut, wenn die Leute nicht mehr in so großen Teilen kommen.

Wir brauchen eine Zusammenarbeit der Politik mit der engagierten Zivilgesellschaft. Wir haben immer wieder erlebt, dass sich Menschen stark und begeistert engagieren, aber sich nach einigen Jahren wieder abwenden, weil sie sich von der Politik in ihrem Engagement allein gelassen oder sogar konterkariert fühlen. Die Flüchtlingsbewegung und andere Entwicklungen machen deutlich, dass wie eine andere Wohnungsbaupolitik brauchen. Und wir brauchen auch eine Politik, die versucht, mit den Migranten und Flüchtlingen zu arbeiten und sie nicht als bloße Objekte von Politik und Verwaltung ansieht. 

Das Interview führte Jan Hendrik Stens. 

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst

Der weltweite Jesuiten-Flüchtlingsdienst wurde 1980 angesichts der Not vietnamesischer Bootsflüchtlinge als internationale Hilfsorganisation gegründet. Heute ist er mit etwa 1.200 Mitarbeitenden in mehr als 50 Ländern vertreten. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst will Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten in der Öffentlichkeit eine Stimme geben und Stellung nehmen zu Entwicklungen im Ausländerrecht und in der Asylpolitik.

Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Aleppo, Syrien, 2018 / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Aleppo, Syrien, 2018 / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )
Quelle:
DR