DOMRADIO.DE: Wie beobachten Sie aus dem Ausland die Debatte in Deutschland um Grenzsicherung und vermehrte Abschiebungen?
Bruder Michael Schöpf SJ (Deputy International Director des Jesuit Refugee Service / JRS): Die Debatte wird natürlich überall wahrgenommen und ist prominent in den Medien und in den Diskussionen vertreten. Ein Blick von außen zeigt, dass es sich um eine gefährliche Gemengelage handelt. Der Ursprung der Debatte war eine Sicherheitsdebatte. Wie können wir vermeiden, dass islamistisch motivierte Anschläge stattfinden? Und was führt zu Islamismus? Hier gibt es ein sehr berechtigtes Sicherheitsbedürfnis.
Gleichzeitig haben wir aber eine Migrationsdebatte, die überhaupt nichts damit zu tun hat. Wenn wir anschauen, wie die Anschläge in den letzten Wochen und Monaten motiviert waren und von welchen Personen sie begangen wurden, dann ist es das ganze Spektrum: Menschen, die eine Fluchtgeschichte aus Syrien haben, Menschen, die eine Einwanderungsgeschichte aus anderen Ländern haben und Menschen, die überhaupt keine Migrationsgeschichte haben.
Die Gefahr besteht darin, dass diese Gemengelage zu keinen Lösungen führen wird.
DOMRADIO.DE: Das Sicherheitsbedürfnis ist ein berechtigtes Anliegen. Welchen Preis zahlen wir dafür durch die aktuellen Maßnahmen?
Bruder Schöpf: Es wird gefordert, an den Grenzen überhaupt keine individuellen Asylgesuche mehr zuzulassen. Das birgt verschiedene Gefahren. Zum einen steht unsere Solidarität, der wir uns verpflichtet fühlen, aus christlicher Sicht und auch aus europäischer Sicht vollständig auf dem Spiel.
Zum anderen werden wir damit aber auch eine Gesellschaft schaffen, in der wir uns selbst isolieren und auf die Art und Weise sowohl nach innen als auch nach außen selbst zum Sicherheitsproblem werden.
Nach innen stellt sich die Frage, wessen Grundrechte anerkannt werden und welche Gruppen ausgeschlossen werden sollen. Die Rechtsstaatlichkeit steht auf dem Spiel. Nach außen stellt sich die Frage, wie wir positive Beziehungen für die Zukunft entwickeln können, wenn wir uns als Staat isolieren und keine Beziehungen mehr mit anderen Staaten und Menschen eingehen.
DOMRADIO.DE: In unseren Nachbarländern wie zum Beispiel Dänemark, die Niederlande oder Belgien, die bislang als eher liberal galten und wo es auch viel Migration gibt, wird mittlerweile ebenfalls ein sehr rigider Kurs gefahren, was Abschiebung und Einreise angeht. Ist der Bevölkerung auch dort das Thema Migration über den Kopf gewachsen?
Bruder Schöpf: Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der die Probleme, mit denen sich Menschen beschäftigen müssen, komplexer werden. Migration ist eines, die wirtschaftliche Lage von vielen Menschen ist ein anderes davon. Die Frage, wie wir unseren Wohlstand erhalten können, ist ein drittes. Das führt zu einer Politik, die sich zunächst auf die gefühlte Wahrnehmung beruft.
Wir sehen das in Deutschland, aber auch in den von Ihnen genannten Ländern an der Reaktion der Politik. Hier sehe ich eine große Gefahr. Wie kann eine Politik, die auf gefühlten Wahrnehmungen beruht, zu Lösungen beitragen, wenn Sie die Ankündigung der neuen niederländischen Regierung anschauen, aus dem gemeinsamen europäischen Asylsystem aussteigen zu wollen? Treibt es das auf die Spitze? Aber es zeigt auch, wohin das führt, nämlich in die Unlösbarkeit von Problemen.
DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche in Deutschland hat sich mittlerweile auch zu Wort gemeldet. Erzbischof Stefan Heße und Reinhard Kardinal Marx haben die gegenwärtige Grenzkontroll- und Abschiebepolitik scharf kritisiert. Wie positionieren sich Kirchenvertreter in anderen europäischen Ländern zu der jeweiligen Situation?
Bruder Schöpf: Ich glaube, dass die deutsche Kirche eine der Ortskirchen ist, die sich am deutlichsten zu diesen Fragen positioniert und ich bin persönlich sehr froh darüber. Wenn ich mir die Italienische Bischofskonferenz anschaue oder andere Bischofskonferenzen, dann gibt es natürlich auch Worte in diese Richtung. Denen fehlt aber die Dringlichkeit, die dem Problem angemessen ist.
Wenn ich die Reaktion der deutschen Bischöfe – aber nicht nur der Bischöfe, auch der Laien und der Menschen in den vielen Gemeinden, die ich persönlich kenne – anschaue, dann ist ein Argument, das immer wieder kommt, dass wir uns nicht von der Solidarität verabschieden können.
Solidarität meint eben nicht, wie es die Politik uns vorspielt, eine gelegentliche Großzügigkeit. Sie meint nicht, dass wir Leuten, wenn wir es uns leisten können, etwas zugestehen. Sie meint, dass wir wirklich von einer Gemeinschaft ausgehen und Fragen für gemeinschaftliche Lösungen suchen. Das ist die Alternative und das ist der einzige Ansatz auch im Konkreten.
DOMRADIO.DE: Einige Länder, in die Asylsuchende wieder abgeschoben werden, wollen diese nicht aufnehmen. Deutschland führt diesbezüglich einige internationale Verhandlungen. Was muss die internationale Politik tun, um einerseits zu uns kommenden Menschen in Not zu helfen, andererseits aber auch die Infrastruktur für Migration und Asyl in unserem Land nicht zu überlasten?
Bruder Schöpf: Der wichtigste Punkt ist, dass wir mit den Geflüchteten reden müssen. Daran führt kein Weg vorbei. Ich glaube, dass das auch relativ leicht einzusehen ist. Die Menschen, die sich überfordert fühlen, fordern im Moment ja genau dasselbe. Sie sagen, dass niemand mit ihnen über ihre Probleme spricht. Sie wollen gehört werden. Das ist richtig für Menschen, die in dieser Situation sind. Aber es kann natürlich nicht ausschließlich für bestimmte Gruppen gelten. Deswegen müssen wir die Geflüchteten hier einbeziehen.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.