Es ist etwa so, als würde VW - oder ein anderer Autobauer - einen konzerneigenen Untersuchungsbericht zum Diesel-Skandal veröffentlichten: Auf mindestens 350, eher 600 Seiten
- Mutmaßungen der Medien schwanken - will der Vatikan offenlegen, was der Heilige Stuhl wann zu Theodore McCarrick wusste und entschieden hat: von dessen Geburt 1930 bis 2017, elf Jahre nach dessen Rücktritt als Erzbischof von Washington 2006. Im Juli 2018 entließ Franziskus McCarrick aus dem Kardinalsstand, ein halbes Jahr später auch aus dem Klerikerstand. Begründung des vatikanischen Verfahrens: Missbrauch von Minderjährigen, moralisches Fehlverhalten gegenüber Erwachsenen, Machtmissbrauch.
Seit zwei Jahren erwartet
Erwartet wird der "McCarrick-Report" seit zwei Jahren. Damals, im Frühherbst 2018, war bekannt geworden, der Papst habe die Kurie angewiesen, sämtliche Unterlagen mit McCarricks Namen zu sichten.
Herausgekommen ist ein "Bericht über die institutionelle Kenntnis des Heiligen Stuhls und seine Entscheidungsfindungen im Zusammenhang mit dem früheren Kardinal Theodore McCarrick (von 1930 bis 2017)". Wer genau den Bericht verfasst hat, ist noch unklar. Verantwortet wird er von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin. Der teilte Anfang 2020 mit, das Werk liege fertig beim Papst. Warum Franziskus das heikle Opus erst jetzt herausgibt? Zum Teil mag die Verzögerung der Pandemie geschuldet sein. Jetzt platzt der Bericht mitten zwischen den Rummel um die US-Präsidentenwahl und die Vollversammlung der US-Bischöfe am 16./17. November.
"Weiteres blaues Auge" für die Kirche?
Kardinal Timothy Dolan, Erzbischof von McCarricks Heimatbistum New York, unkte bereits, "der Kirche könnte ein weiteres blaues Auge verpasst werden". Es war Dolans Erzbistum, das im Frühsommer 2018 mitteilte, die Vorwürfe eines Mannes, McCarrick habe ihn als Minderjähriger vor Jahrzehnten missbraucht, seien "glaubhaft und substanziell". Daraufhin - wohl wegen weiterer Infos - drängte der Papst McCarrick zum Rücktritt aus dem Kardinalsstand.
Dabei war der weltgewandte Washingtoner Erzbischof fast zwei Jahrzehnte lang ein Vorreiter der US-Bischöfe im Kampf gegen Missbrauch. Rückfragen und - wie sich später zeigte - sanften Druck auf ihn gab es wohl schon vorher. Richtig Dampf machte Ende August 2018 Erzbischof Carlo Maria Vigano.
Vorwürfe von Vigano an Vatikan
Der frühere Nuntius in den USA (2011-2016) warf Franziskus und der Kurie in einem elf Seiten umfassenden Schreiben vor, McCarrick jahrelang gedeckt zu haben. Der Papst habe gar eine Anordnung seines Vorgängers Benedikt XVI., McCarrick solle sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, aufgehoben. Franziskus solle zurücktreten.
Viganos Einlassungen enthielten Richtiges, Übertriebenes, Falsches und Mutmaßungen. Von Journalisten darauf angesprochen, sagte Franziskus: "Lesen Sie selbst aufmerksam und bilden Sie sich ein eigenes Urteil." Er selbst werde sich später äußern.
Die Kritik, McCarricks jahrzehntelange Karriere sei im Vatikan trotz Informationen über moralisches Fehlverhalten begleitet, gefördert und gedeckt worden, wiegt schwer. Um sie zu klären, steuerten die vier beteiligten US-Diözesen New York, Metuchen, Newark und Washington je eigene Untersuchungen bei.
Ungeklärte Fragen
Vigano forderte in erster Linie den Rücktritt von Franziskus. Zwar erwähnte der mittlerweile verkrachte Ex-Nuntius auch mögliche frühere Verantwortliche, wies ihnen aber weniger Verantwortung zu. Wie reagiert nun der Vatikan? Schiebt er möglichst viel Verantwortung auf frühere Beteiligte, von denen einige schon gestorben sind? Schont er aktuelle?
Welche Rolle spielten die früheren Leiter der Bischofskongregation, Sebastiano Baggio (bis 1984), Bernardin Gantin (bis 1998), Giovanni Battista Re (bis 2010) und ihre Sekretäre? Der heute 86-jährige Re, inzwischen Dekan des Kardinalskollegiums, war am Samstag beim Papst. Dort wird es nicht nur um die Erhebung neuer Kardinäle am 28. November gegangen sein. Welche Rolle hatten die Kardinalstaatssekretäre Agostino Casaroli, Angelo Sodano und Tarcisio Bertone, die Nuntien in Washington - Vigano eingeschlossen - und die Päpste von Johannes Paul II. bis Franziskus?
Wie objektiv und transparent der Bericht ausfällt, wird schwer zu überprüfen sein. Trotz vieler Beteuerungen und guter Ansätze ist da beim Vatikan noch viel Luft nach oben. Nicht nur Franziskus' Kritiker werden sich genau anschauen, wie der Vatikan diese Transparenz-Nagelprobe besteht.