Wie Adveniat in Mittelamerika Menschenrechtsarbeit fördert

Hilfe für Opfer des Ausnahmezustands

Dass in El Salvador Tausende Unschuldige in Haft sitzen, stürzt ihre Familien in große Not. Basisgemeinden gründen Betroffenen-Initiativen; Beistand kommt von lokalen Ordensschwestern und dem katholischen Lateinamerikahilfswerk.

Treffen von Angehörigen unschuldig Verhafteter / © Stephan Neumann (Adveniat)
Treffen von Angehörigen unschuldig Verhafteter / © Stephan Neumann ( Adveniat )

"Da hat er gelegen, als sie kamen." Ana Rodriguez zeigt auf die Hängematte. Da haben die Polizisten ihren ältesten Sohn herauszerrt, ihn zu Boden geworfen, ihm Handschellen angelegt. "Du bist doch Bandenmitglied", hat ihn der eine angeblafft, obwohl der damals 22-Jähre nichts, aber auch gar nichts mit den berüchtigten Jugendbanden der Maras zu tun hatte, schwört seine Mutter. Trotzdem haben sie ihn einfach mitgenommen - keinen Monat, nachdem Präsident Nayib Bukele im März 2022 für El Salvador den Ausnahmezustand ausgerufen hatte. 

In dieser Hütte lebt Ana Rodriguez mit ihren Kindern / © Stephan Neumann (Adveniat)
In dieser Hütte lebt Ana Rodriguez mit ihren Kindern / © Stephan Neumann ( Adveniat )

Für Ana Rodriguez, die eigentlich anders heißt, begann damals eine Odyssee von Gefängnis zu Gefängnis; immer wieder wurde sie vertröstet und weitergeschickt, nie bekam sie verlässliche Nachrichten von ihrem Jungen, geschweige denn ihn selbst zu sehen. Einen Großteil ihres bescheidenen Lohns als Haushaltshilfe investierte sie in Pakete für den Sohn. Ob sie ihn erreichen würden, wusste sie nie. Anderthalb Jahre ging es so – dann kam ein Anruf: "Ihr Sohn ist in der Haft gestorben."

Ohne Nieren, ohne Herz

Als sie von dem schlimmen Tag im Spätherbst 2023 berichtet, sitzt Ana Rodriguez in ihrer bescheidenen Hütte mit Lehmboden und Wellblechdach, in der sie mit ihren drei anderen Kindern noch immer wohnt - und hat Tränen in den Augen. Sie brachten ihr den Leichnam, ohne Nieren, ohne Herz. "Sie haben gesagt, ich soll nur sein Gesicht anschauen; aber als der Bestatter ihn für die Beerdigung herrichten wollte, war er einfach nur entsetzt." Auch der Schädel sei aufgeschnitten gewesen, erzählt sie mit leiser Stimme, der ganze Körper mit Wunden übersät. "Der Schmerz - darüber wird nie vergehen."

Wohnung im Armenviertel El Salvadors / © Stephan Neumann (Adveniat)
Wohnung im Armenviertel El Salvadors / © Stephan Neumann ( Adveniat )

Was Ana Rodriguez widerfuhr ist sicher extrem grausam, gleichwohl kein Einzelschicksal in El Salvador. Denn Bukele ließ im längst permanenten Ausnahmezustand nicht nur Zehntausende Bandenmitglieder festsetzen, sondern laut übereinstimmenden Berichten nationaler und internationaler NGOs auch Zigtausende Unschuldige. Diesen Berichten zufolge herrschen in den Gefängnissen miserable hygienische Bedingungen, die Inhaftierten sind immer wieder Folter und Misshandlungen ausgesetzt. 

Wandbild ländliche Gemeinde El Salvador "Schrei der Erde, Schrei der Arbeit" / © Stephan Neumann (Adveniat)
Wandbild ländliche Gemeinde El Salvador "Schrei der Erde, Schrei der Arbeit" / © Stephan Neumann ( Adveniat )

Weil es aber Bukele mit seiner Politik der harten Hand gelungen ist, die Mordrate in El Salvador von einer der höchsten auf eine der niedrigsten zu senken und das Land so spürbar sicherer zu machen, ist er noch immer in weiten Teilen der Bevölkerung äußerst populär. Solange die Leute nicht selbst betroffen sind, nehmen sie die hinter vorgehaltener Hand kursierenden Nachrichten von den unschuldig Inhaftierten oft einfach als Kollateralschaden hin.

Handeln heißt Zuhören

Betroffene Familien haben unteressen damit begonnen, sich zusammenzuschließen. Zum Beispiel zum 'Komité der Angehörigen von Opfern des Ausnahmezustandes Baja Lempa', das aus der örtlichen Basisgemeinde heraus entstanden ist. "Unser Motto ist 'Sehen, die Wirklichkeit einschätzen, handeln!'", erklärt Leiter Salvador Ruiz. Und Handeln – das konnte im Ausnahmezustand doch nur heißen, den Betroffenen zuzuhören, ihre Fälle zu dokumentieren und sie vor Gericht zu bringen. Über 134 Mal haben sie das bisher getan und auch, wenn der Erfolg bisher bescheiden ausfällt, ist alleine das gemeinsame Eintreten für viele ein wichtiger Schritt.

Salvador Ruiz leitet das Comite der Angehörigen von Opfern des Ausnahmezustandes / © Stephan Neumann (Adveniat)
Salvador Ruiz leitet das Comite der Angehörigen von Opfern des Ausnahmezustandes / © Stephan Neumann ( Adveniat )

Sie alle – Betroffene und Komité-Mitglieder – gingen mit ihrem Engagement das Risiko ein, selbst vom Fleck weg verhaftet zu werden, erklärt Ruiz, schließlich könne es im Ausnahmezustand mit seiner Einschränkung der Grundrechte jederzeit jeden und jede treffen. Und natürlich hätten sie alle Angst gehabt, als sie Unterlagen einreichten, um die Unschuld Festgenommener nachzuweisen. "Aber je mehr wir gekämpft und protestiert haben, je enger wir uns zusammengeschlossen haben, desto stärker sind wir geworden", sagt der Komité-Mitbegründer.  Deshalb hätten sie ihre Angst zwar nicht verloren, aber fühlten sich nicht mehr so alleine damit. "Sie wissen: da sind andere, denen es genauso geht wie uns, da ist die Gruppe, da ist die Organisation, die trägt. So lässt sich die Angst besser aushalten, die der Staat über seine Institutionen verbreiten lässt."

Christen dürfen nicht schweigen

Beistand finden sie bei Ordensfrauen wie Schwester Noemi Ortiz, die hier schon seit Bürgerkriegszeiten für den sozialen Frieden arbeitet und ebenfalls der Basisgemeinde angehört. "Wir sind stolz auf die jungen Leute, die das Komité aus christlicher Inspiration auf die Beine gestellt haben", sagt Schwester Noemi. Als Christen könnten sie angesichts des Unrechts doch nicht einfach schweigen. "Und deshalb unterstützen wir diese Initiative Unschuldiger für Unschuldige."  

Adveniat unterstützt die Nothilfe für Angehörige von Verhafteten / © Stephan Neumann (Adveniat)
Adveniat unterstützt die Nothilfe für Angehörige von Verhafteten / © Stephan Neumann ( Adveniat )

Gemeinsam mit den Mitschwestern und unterstützt vom katholischen Lateinamerikahilfswerk Adveniat verteilt Noemi Nothilfe-Pakete mit Grundnahrungsmitteln wie Bohnen, Reis und Zucker sowie Zahnpasta und Toilettenpapier. Schließlich verlieren die betroffenen Familien mit ihren Lieben im Gefängnis meist auch ein eigentlich lebensnotwendiges Einkommen.

Psychologischer Beistand

Die willkürlichen Verhaftungen, so die Erfahrung der Ordensfrauen, stürzen die Familien der Opfer aber nicht nur in schlimmste finanziellen, sondern natürlich auch in emotionale Krisen. So organisieren sie besonders auch psychologischen Beistand; für Kinder, deren Eltern von einem Tag auf den anderen hinter Gittern verschwinden genauso wie für Eltern, die der Verlust der Söhne oder Töchter in Depressionen verfallen. Denn - wie immer und überall auf der Welt - auch im Ausnahmezustand in El Salvador leiden die Ärmsten der Armen am meisten. 

Straßenszene im ländlichen El Salvador / © Stephan Neumann (Adveniat)
Straßenszene im ländlichen El Salvador / © Stephan Neumann ( Adveniat )

Das Leid der einfachen Bevölkerung, der immer autoritärere Regierungsstil des Präsidenten, das Schweigen der internationalen Gemeinschaft zu all dem Unrecht – all das stimmt Schwester Noemi sorgenvoll, aber nicht hoffnungslos. Salvador Ruiz und die anderen Komitémitglieder sind in ihren Augen das beste Beispiel, wie Bewusstseinsbildung von ganz unten am Ende doch Früchte trägt. "Das Volk wird erwachen; noch ist es von Angst gelähmt, aber sogar jetzt sehen wir schon prophetische Gesten."

Adveniat

Adveniat ist das Hilfswerk der deutschen Katholiken für die Kirche Lateinamerikas. Der Name leitet sich ab von der lateinischen Vaterunser-Bitte "Adveniat regnum tuum" ("Dein Reich komme"). 

Bischöfliche Aktion Adveniat e. V. (Adveniat)
Bischöfliche Aktion Adveniat e. V. / ( Adveniat )
Quelle:
DR