Wie Boliviens Regierung den Putsch gegen sich selbst probt

Schmierenkomödie statt Staatsstreich

Militärs fordern in Bolivien die Regierung heraus. Nach dem Scheitern wollen sie auf Anweisung gehandelt haben. War alles inszeniert? Ein Gastkommentar von Dietmar Müßig, Referent für Bolivienpartnerschaft im Bistum Hildesheim.

Autor/in:
Dietmar Müßig, Cochabamba
Der bolivianische Präsident Luis Arce erhebt seine geballte Faust, umgeben von Anhängern und Medienvertretern, vor dem Regierungspalast in La Paz. / © Juan Karita/AP (dpa)
Der bolivianische Präsident Luis Arce erhebt seine geballte Faust, umgeben von Anhängern und Medienvertretern, vor dem Regierungspalast in La Paz. / © Juan Karita/AP ( dpa )

Das Theater beginnt am frühen Nachmittag des 26. Juni. Um diese Zeit erscheinen in den sozialen Medien und kurz darauf auf den Bildschirmen der Fernsehkanäle die ersten, verwackelten Videos von Panzerwagen im Stadtzentrum von La Paz. Einer von ihnen drückt mit der Kühlerhaube den Eingang zum Palacio Quemado ein, dem Sitz der Regierung. Schwer bewaffnete und vermummte Soldaten schwärmen aus und blockieren die vier Zugänge zur Plaza Murillo. Unmittelbar neben dem Regierungsgebäude liegen hier auch das Gebäude des Parlaments und die Kathedrale.

Die Uniformierten zünden Tränengasgranaten, um die Bevölkerung von der Menschenansammlung fernzuhalten, die sich um die camouflierten Fahrzeuge gebildet hat. Aus einem dieser gepanzerten Wagen steigt General Juan José Zúñiga, der Oberkommandierende des bolivianischen Heeres. Eskortiert von den Befehlshabern der Luftwaffe und der Marine hält er eine flammende Rede gegen die politischen Eliten, die das Land ausplünderten, und verspricht im selben Atemzug - so wörtlich -, die Demokratie zu restrukturieren.

Erinnerung an schlimme Zeiten

Ungefähr zur gleichen Zeit hat sich fast das gesamte Kabinett in der Casa Grande del Pueblo versammelt, dem Haus des Volkes. Aus den oberen Stockwerken dieses modernen Hochhauses mit verspiegelten Glasfassaden kann man direkt auf die Plaza Murillo blicken. Aufgereiht wie Pennäler zum Klassenfoto umrahmen die Ministerinnen und Minister von beiden Seiten Luis Arce. Der legitime Präsident Boliviens steht steif in der Mitte und spricht monoton von irregulären Bewegungen einiger Militäreinheiten.

Dann ruft er die Bevölkerung zum Schutz der Demokratie vor einem Militärputsch auf. Kurze Zeit später kursiert ein Video, das die Präsidialamtsministerin Marianela Prada zeigt, die ebenfalls vor einem Staatsstreich warnt. Einen Moment lang fühlt man sich an die schlimmsten Zeiten der Geschichte Boliviens erinnert, dem Land mit den meisten Militärdiktaturen in ganz Südamerika.

Einige Ungereimtheiten

Aber nur einen Moment - bis dem kritischen Beobachter immer mehr Ungereimtheiten auffallen bei dem, was er da zu sehen bekommt. Das Video von Prada wirkt einstudiert; bis hin zum Schwenk der Kamera, mit dem der Blick der Betrachtenden einer dezenten Geste der Ministerin folgend zu den Geschehnissen auf der Plaza Murillo gelenkt wird. Unwillkürlich denkt man an die aufgereihte Ministerriege mit den ausdruckslosen Minen zurück und wundert sich, dass sich angesichts einer unmittelbar bevorstehenden, möglicherweise gewaltsamen Machtübernahme durch die Militärs in keinem der Gesichter auch nur Anzeichen von Angst oder Panik widerspiegeln.

Verwunderlich ebenso Filmaufnahmen, die den Minister für Regierungsangelegenheiten zeigen, wie er - halb hilflos und halb aggressiv - mitten auf der Plaza Murillo gegen die verdunkelten Scheiben des Panzerwagens hämmert, hinter denen er den Anführer der Putschisten vermutet. Müsste er bei einem Militärputsch nicht damit rechnen, augenblicklich von einem der anwesenden Scharfschützen erschossen zu werden?

Panik und Hamsterkäufe

Noch verwunderlicher schließlich Videos von der Begegnung zwischen Präsident Arce und General Zúñiga unmittelbar vor der Tür des Regierungspalastes. Ihre Akustik ist so schlecht, dass man zunächst nicht hört, was die beiden da miteinander reden. Doch keine zwei Stunden später gibt Zúñiga zu Protokoll, dass der Einsatz der Panzerfahrzeuge zuvor mit dem Präsidenten abgesprochen gewesen sei. Dieser habe etwas für seine Popularität tun wollen… Ohne den nächsten Satz beenden zu können, wird der General vor laufenden Kameras in einen Pickup der Polizei bugsiert und davongefahren.

Noch während sich die Ereignisse auf der Plaza Murillo überschlagen, bilden sich an den Kassen der Supermärkte und vor den Tankstellen in vielen Landesteilen lange Schlangen. In Panik versuchen die Menschen, sich mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Doch kaum sind sie von den spontanen Hamsterkäufen zurückgekehrt, erfahren die Leute dann über das Fernsehen, dass sich die Soldaten von der Plaza Murillo zurückgezogen haben. Dies sei auf Anweisung der neuen Militärführung geschehen, die in erstaunlich kurzer Zeit vom Präsidenten Arce ernannt worden war.

Geeintes Land

Schließlich flimmern erste Dankes-Reden des Präsidenten über die Bildschirme. Er redet vom Balkon des Palacio Quemado aus und lobt das Volk und die sozialen Bewegungen für ihren Einsatz zur Verteidigung der Demokratie. Für deren Bewahrung hatte sich wiederum kurz zuvor der Dachverband der in Bolivien mächtigen Gewerkschaften eingesetzt. Selbst die Anführer der Oppositionsparteien hatten in ersten Statements ihre Unterstützung für den legitimen Präsidenten Arce zum Ausdruck gebracht. 

Gegen halb zehn abends dann der dritte Akt des Theaters: Regierungsminister Eduardo del Castillo präsentiert in einer Pressekonferenz General Zúñiga sowie den ebenfalls verhafteten Marinekommandeur und kündigt lange Haftstrafen für beide an. Dies wird auch der Tenor der nun anstehenden Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaft sein. Und die Linie der regierungs-offiziellen Kommunikation. Ob allerdings Arces Versuch erfolgreich sein wird, sich mit der Niederschlagung dieses vermeintlichen Putsches als handlungsstarker Führer zu präsentieren, bleibt abzuwarten.

Ablenkung von zahlreichen Problemen

Denn in den bolivianischen Medien ist zunehmend von einem auto-golpe die Rede, einem von der Regierung selbst inszenierten Putsch. Das erste, und vermutlich nicht letzte, Bauernopfer dieser Schmierenkomödie wäre dann Zúñiga, der bis vor kurzem noch als enger Vertrauter des Präsidenten gegolten hatte. Vor wenigen Tagen erst hatte er öffentlich bekannt gegeben, zur Verteidigung der Demokratie notfalls auch den Ex-Präsidenten Evo Morales verhaften zu lassen, wenn dieser es wagen sollte, entgegen der Verfassung noch einmal als Kandidat für die Wahlen im kommenden Jahr anzutreten.

Morales und Arce streiten sich seit Monaten erbittert um die Präsidentschafts-Kandidatur für die MAS-Partei, der sie beide angehören. Dabei hatte Arce den immer noch populärem Morales beschuldigt, ihn vorzeitig aus dem Amt putschen zu wollen. Ob nun der vorgetäuschte Putsch gegen sich selbst Arce dazu verhelfen wird, von den massiven wirtschaftlichen Problemen des Landes und den sich daraus ergebenden sozialen Spannungen abzulenken, darf in Frage gestellt werden. Als charismatischer Politiker hat er sich jedenfalls bislang nicht hervorgetan. Und dass er nicht einmal ein guter Schauspieler ist, zeigen die jüngsten Memes in den Social Media: Dort wird Arce im weißen Hemd mit Fliege und schwarzem Anzug als Oscar-Preisträger präsentiert - für das beste adaptierte Drehbuch!

Kirche in Bolivien

Von den knapp 12 Millionen Einwohnern Boliviens sind nach offiziellen vatikanischen Angaben 82,5 Prozent Katholiken. Die katholische Kirche in Bolivien besteht aus 27 Bistümern und Bistums ähnlichen Verwaltungseinheiten. Sie unterhält landesweit rund 1.800 Kindergärten, Schulen, Universitäten und Seminare.

Der Priestermangel ist groß. Je 7.700 Katholiken kommen auf einen Priester; zum Vergleich: in Deutschland sind es 1.500. Der höhere Klerus besteht zu einem beachtlichen Teil aus Weißen; einige Bischöfe sind Europäer.

Franziskus in Bolivien (dpa)
Franziskus in Bolivien / ( dpa )
Quelle:
DR