Wie die Inklusion in Osteuropa hinterherhinkt

Die unsichtbare Minderheit

Menschen mit Behinderung werden in Osteuropa immer noch vielfach stigmatisiert. Bei der Entwicklung inklusiver Angebote spielt auch die katholische Kirche eine wichtige Rolle und hilft. Ein Besuch im Süden Georgiens.

Autor/in:
Elena Hong
Maia Nanobaschwili hat Trisomie 21 / © Elena Hong (DR)
Maia Nanobaschwili hat Trisomie 21 / © Elena Hong ( DR )

Maia kocht Kaffee. Obwohl sie nur ein Prozent Sehvermögen hat, sitzt jeder Handgriff. "Sie liebt Kaffee", sagt die Mutter. Maia hat Trisomie 21 und hätte eigentlich gar nicht am Leben sein sollen – zumindest, wenn es nach den Anderen gegangen wäre. 

Nach der Geburt riet ihr die Familie, ihre Tochter abzugeben. "Die Ärzte im Krankenhaus sagten mir, sie werde nicht lebensfähig sein, nicht richtig essen können oder laufen lernen", berichtet Marina Nanobaschwili. "Kümmere dich lieber um deine gesunden Kinder. Lass sie hier. In Georgien war das damals üblich, wenn man ein Kind mit Behinderung gebar. Viele haben es so gemacht." 

Marina Nanobaschwili und ihre Tochter Maia / © Elena Hong (DR)
Marina Nanobaschwili und ihre Tochter Maia / © Elena Hong ( DR )

Doch Marina Nanobaschwili hat ihr Baby behalten. Sechs Monate lang blieb sie mit der Tochter zunächst im Krankenhaus, bis diese genug Gewicht erreicht hatte. Es sei nicht einfach gewesen an Medikamente zu kommen, erinnert sie sich. Später folgten mehrere Operationen. Eine harte Zeit. Aber heute kann sie essen, sprechen, gehen. Und nicht nur das.

Förderung in der Tagesbetreuung

Obwohl Maia nur ein Prozent Sehvermögen hat, liebt sie es kreativ zu sein / © Elena Hong (DR)
Obwohl Maia nur ein Prozent Sehvermögen hat, liebt sie es kreativ zu sein / © Elena Hong ( DR )

Seitdem Maia 18 ist, besucht sie das Rehabilitationszentrum der Kamillianer in Achalziche, einer Kleinstadt im Süden Georgiens. Dreimal die Woche wird sie abgeholt und verbringt den ganzen Tag dort, angefangen von einem gemeinsamen Frühstück bis hin zu den pädagogischen Freizeitangeboten. Besonders gerne hält sie sich im Kreativraum auf. Einige der Kunstwerke zieren auch die Dreizimmerwohnung, in der sie mit ihren Eltern lebt. Außerdem hat sie in der Einrichtung einiges über Hauswirtschaftslehre gelernt, um ein möglichst eigenständiges Leben zu führen. "Sie kann kochen, auch wenn es nicht immer schmeckt", sagt die Mutter mit einem Schmunzeln.

Vorbild für staatliche Programme

Basteln im Kreativraum / © Elena Hong (DR)
Basteln im Kreativraum / © Elena Hong ( DR )

Eine heilpädagogische Einrichtung mit dieser Ausstattung ist in der Region einmalig. Täglich werden hier bis zu 70 Menschen mit Handicaps betreut. Es gibt Räume für Physiotherapie, Sprachtherapie, Psychotherapie und viele weitere. Ein Rehabilitationszentrum, wie es im Grunde auch in Deutschland stehen könnte. Ein Modell für die staatlichen Unterstützungsprogramme, die zum Teil erst sehr viel später entstanden sind. Finanziert wurde das Gebäude maßgeblich von katholischen Hilfswerken. In der orthodoxen Kirche, der die meisten Einwohner des Landes angehören, sind karitative Dienste an Behinderten kaum verankert. 

Wartezeiten für Therapien 

Integrative Kitas, barrierefreie Schulen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind mittlerweile zwar stärker verbreitet, aber längst nicht in der Fläche angekommen - obwohl Georgien 2014 die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat. Die Kinder- und Jugendpsychologin Sophio Nadiradze kritisiert vor allem einen Mangel an Fachwissen, an qualifiziertem Personal und entsprechenden Ausbildungsstätten.

Rehabilitationszentrum der Kamillianer in Achalziche / © Elena Hong (DR)
Rehabilitationszentrum der Kamillianer in Achalziche / © Elena Hong ( DR )

"Die Eltern sind häufig total überfordert. In ihrer Nähe gibt es keine Spezialisten. Dann kommen sie für die Therapie extra nach Tiflis. Aber auch hier sind die Wartezeiten extrem lang." Aus Verzweiflung würden sich manche Eltern eigenständig im Internet informieren und auf unseriöse Hausmittel zurückgreifen, die dem Kind sogar eher schaden können als ihm zu helfen, berichtet die Dozentin von der Katholischen Universität in Tiflis.

Schwacher Sozialstaat

Sebastian Hisch (links) am Eingang des Reha-Zentrums in Achalziche / © Elena Hong (DR)
Sebastian Hisch (links) am Eingang des Reha-Zentrums in Achalziche / © Elena Hong ( DR )

Die Versorgungslücken sind vor allem sozioökonomisch begründet. Die Staatskassen sind leer. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung lebt in Armut. Besonders in ländlichen Regionen fühlen sich viele Menschen abgehängt. Doch Sebastian Hisch, Länderreferent bei Renovabis, sieht langsame Verbesserungen: "Mit der Annäherung an die EU musste die Regierung Auflagen erfüllen. Das betrifft auch die sozialen Dienste." Die politische Abkehr von Europa, die sich derzeit abzeichnet, bereite ihm daher große Sorge. Denn es wäre eigentlich noch viel zu tun. 

In diesem Haus wohnt Maia mit ihren Eltern und ihrem Hund  / © Elena Hong (DR)
In diesem Haus wohnt Maia mit ihren Eltern und ihrem Hund / © Elena Hong ( DR )

In der Öffentlichkeit sind Menschen mit Handicap kaum präsent, auch wenn die Stigmatisierung in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen hat. Auch aus diesem Grund ist die 65-jährige Marina Nanobaschwili froh darüber, dass es das Rehabilitationszentrum in ihrer Stadt gibt. Ihr Leben und das ihrer Tochter hat es zum Positiven verändert. "Früher hatte Maia wenig Selbstvertrauen. Sie wurde wegen des Down-Syndroms von Gleichaltrigen gehänselt. Heute singt und tanzt sie gerne und ist ein fröhliches Mädchen." Ob die Mutter es jemals bereut hat, ihre Tochter zu behalten? "Nein", sagt sie sofort, ohne zu zögern, "noch nie".

Information der Redaktion: Dieser Bericht entstand während einer Reise mit dem Osteuropahilfswerk Renovabis.

Trisomie

Der Name Trisomie stammt aus dem Altgriechischen: tria = drei; soma = Körper. Als Trisomie wird eine dauerhafte Veränderung des Erbgutes bezeichnet. Bei dieser Gen-Mutation liegt in den Körperzellen ein Chromosom oder ein Teil eines Chromosoms dreifach vor. Meist sind die Chromosomen eines Menschen zweifach vorhanden.

Junge mit Down-Syndrom / © Christoph Schmidt (dpa)
Quelle:
DR

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