DOMRADIO.DE: Im Januar 2021 stürmten Anhänger des damals abgewählten Präsidenten Trump das Kapitol, weil sie den Wahlsieger Joe Biden nicht anerkennen wollten. Unter ihnen waren auch religiöse Rechte und Evangelikale, die sich seit einiger Zeit auf den deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer berufen und sagen: So wie er damals den bewaffneten Widerstand gegen Hitler wählte, können oder müssen wir jetzt zur Waffe greifen. Wann haben Sie das erste Mal mitbekommen, wie Ihr Großonkel und seine Gedanken auf diese Weise instrumentalisiert werden?
Mathias Bonhoeffer (Pfarrer in der Evangelischen Gemeinde Köln): Vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Neuen Rechten, die Dietrich Bonhoeffer ja auch für sich benutzt. Ich habe mich dann mit dem Thema beschäftigt und die Biografie von Eric Metaxas und seiner sehr fragwürdigen Auslegung von Dietrich Bonhoeffer gelesen.
DOMRADIO.DE: Eric Metaxas ist ein bekannter US-amerikanischer evangelikaler Autor und Radiomoderator, der die Biografie "Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet" geschrieben hat, die in den USA in Bestseller war. Darin stellt er – grob vereinfacht – die christlichen Fundamentalisten in die Nachfolge der Bekennenden Kirche und stellt den Kulturkampf, der in den USA tobt auf eine Stufe mit Bonhoeffers Kampf gegen das Naziregime. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie so etwas lesen?
Bonhoeffer: Es macht mich fassungslos, denn er macht aus Bonhoeffer einen Evangelikalen, was er mit Sicherheit nicht war. Er hat sich in seiner Kirche damals bisweilen sehr unwohl gefühlt und war auch immer ein bisschen der Außenseiter. Ihn jetzt als Evangelikalen darzustellen, ist schlicht falsch.
Aber in den USA funktioniert das offenbar: Da wird einfach behauptet, das "Establishment" sei "das Böse", das man als Evangelikaler bekämpfen müsse. Also, "das Böse" in Washington wird gleichgesetzt mit dem, was Bonhoeffer als "böse" identifiziert hat, nämlich den Nationalsozialismus. Das ist Geschichtsklitterung und ich halte das für Demagogie.
DOMRADIO.DE: Nicht nur die religiöse Rechte in den USA hat Bonhoeffer für ihre Zwecke gekapert, auch die Friedensbewegung oder die Anti-Apartheid-Bewegung fühlten sich durch ihn inspiriert. Die "Querdenker-Demos" haben ihn auch schon bemüht. Ist es das Schicksal seines Erbes, dass ihn jeder, der sich im Widerstand wähnt, für sich nutzt?
Bonhoeffer: Ja klar, die Botschaft ist kurz: Ich habe einen Gegner, ich werde bedroht, aber es gibt gute Mächte, die mich schützen. Der Unterschied ist, dass wir heute nicht in einer Diktatur leben. Das, was da als "böse" bezeichnet wird, ist eine andere Meinung oder Politik, die den betreffenden Leuten nicht gefällt.
Das verkürzt natürlich seine Botschaft massiv. Dietrich Bonhoeffer war ein komplex denkender und reflektierter Mensch. Aber wenn man ihn auf die kurze Formel "Von guten Mächten wunderbar geborgen" reduziert und damit Kalenderblätter oder Grußkarten bedruckt, dann passiert das halt.
DOMRADIO.DE: Woher kommt diese Verkitschung seines geistigen Erbes?
Bonhoeffer: Ich denke, das liegt daran, dass er Theologe ist und – auch quantitativ – viele Schriften und wirkmächtige Sätze hinterlassen hat. Und wenn man die aus dem Zusammenhang nimmt und auf Gummi schneidet, dann passiert das eben. "Von guten Mächten wunderbar geborgen" wird von vielen Gemeinden an Silvester gesungen, ich habe das als Lied auch bei Hochzeiten und Beerdigungen.
DOMRADIO.DE: Nervt Sie das?
Bonhoeffer: Nein. Es ist zwar aus dem Zusammenhang gerissen, aber manchmal verlassen Werke ihren Autor und führen ein eigenes Leben. So erging es auch Martin Luther zum Beispiel oder Paulus mit "Glaube, Liebe, Hoffnung". Wenn man die Leute fragen würde, wo das herkommt, wüssten das die Wenigsten. Es gibt viele Texte, die ihren Autor verlassen haben und selbst wirkmächtig sind.
Das andere ist, dass Dietrich Bonhoeffer zwar stark rezipiert wird, aber seine Rolle im Widerstand im Verhältnis dazu deutlich kleiner war. Historisch betrachtet hat er eine deutlich kleinere Rolle gespielt, als zum Beispiel sein Bruder Klaus, der das Netzwerk geknüpft hatte. Oder seine Schwager Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher. Aber die haben alle nicht viel Schriftliches hinterlassen.
Dietrich war in der Lage, das alles theologisch zu verarbeiten die Fragen: Ist es richtig, einen Mord zu begehen, wenn man damit Millionen andere Morde verhindert? Ist es besser, schuldig zu werden an einem Mord, als schuldig zu werden an Millionen Morden, die man hätte verhindern können? Das wurde von der Befreiungstheologie in Lateinamerika aufgegriffen und von Desmond Tutu in Südafrika, aber da hatten sie es tatsächlich auch mit Diktaturen und autoritären Systemen zu tun.
DOMRADIO.DE: Sie haben sich immer wieder mit ihrem Großonkel beschäftigt. Was haben Sie über ihn erfahren, was nicht in den Geschichtsbüchern steht?
Bonhoeffer: Es gibt ein paar einschneidende Erzählungen über ihn, die ihn gut charakterisieren: Zum Beispiel war er einmal mit seinem Vikarskurs unterwegs und nachdem sie gemeinsam gegessen hatten, wurden sie gebeten, das Geschirr zu spülen. Keiner von seinen Vikaren ist aufgestanden, nur er ist in die Küche gegangen und hat angefangen zu spülen. Daraufhin wollten auch seine Vikare helfen, aber Dietrich schloss die Tür und sagte: "Ihr habt den Moment verpasst!" So war er: kantig und manchmal unbequem. Es gab viele, die ihn verehrten, aber damit machte er sich auch in seiner eigenen Kirche nicht bei allen beliebt. Nach seiner Verhaftung 1942 stand er nicht auf der Fürbittenliste der Bekennenden Kirche.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.