Der Fall U. im Kölner Missbrauchsgutachten

Wie sich Verantwortliche aufeinander verließen

Ein "System der Unzuständigkeit" erkennt das neue Rechtsgutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln. Exemplarisch dafür steht der Fall des Pfarrers U., den die Staatsanwaltschaft angeklagt hat.

Autor/in:
Michael Althaus
Akte in einem Archiv / © Julia Steinbrecht (KNA)
Akte in einem Archiv / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Von einem "System der Unzuständigkeit, der fehlenden Rechtsklarheit, der fehlenden Kontrollmöglichkeiten und der Intransparenz" spricht das jüngst vorgelegte Rechtsgutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln. Nach Auswertung von mehr als 200 Personalakten und weiteren Dokumenten legt die Kanzlei Gercke Wollschläger 8 Amtsträgern insgesamt 75 Pflichtverletzungen zur Last und kommt zu dem Schluss, dass insbesondere vor dem Jahr 2015 die mangelnden Organisationsstrukturen Vertuschung begünstigten.

Was das konkret bedeutet, zeigt der Fall des mutmaßlichen Missbrauchstäters U., der derzeit auch die staatlichen Justizbehörden beschäftigt. Er macht deutlich, wie sich unter den Bistumsverantwortlichen einer auf den anderen verließ und wie Fehleinschätzungen letztlich dazu führten, dass ein Tatverdacht nicht aufgeklärt wurde.

Pfarrer U. soll sich zwischen 1993 und 1999 mehrfach an seinen drei minderjährigen Nichten vergangen haben, die die Wochenenden in seinem Pfarrhaus verbrachten. Als eine der Nichten im Juni 2010 Anzeige erstattete, nahm die Staatsanwaltschaft Köln ein Ermittlungsverfahren auf. Offenbar auf Druck der Familie wurde die Anzeige wenig später wieder zurückgezogen - samt der bereits getätigten Aussagen der Nichten. Die Staatsanwaltschaft ermittelte jedoch weiter.

Kein Protokoll gefertigt

Das Erzbistum Köln erfuhr durch einen anonymen Brief von dem Verfahren. Der damalige Erzbischof Joachim Meisner entschied zunächst pflichtgemäß, U. von seiner Tätigkeit als Krankenhausseelsorger zu beurlauben. Personalchef Stefan Heße, heute Hamburger Erzbischof, lud den Pfarrer zu einem Gespräch und überreichte ihm seine Entpflichtungsurkunde. In einer von Heße unterzeichneten, handschriftlichen Notiz seiner Sekretärin heißt es, dass der Beschuldigte alles erzählt habe. Und weiter: "Es wird von uns kein Protokoll hierüber gefertigt, da dieses beschlagnahmefähig wäre. Es bestehen lediglich eigene handschriftliche Notizen, die notfalls vernichtet werden können."

Heße kann sich nicht erinnern, sein Einverständnis zu einem solchen Vorgehen gegeben zu haben. Wie seine Unterschrift unter die Notiz gelangt sei, könne er sich nicht erklären, sagte er den Gutachtern.

Möglicherweise sei an jenem Tag viel zu tun gewesen. Die Notiz habe seine Sekretärin nach einem Telefonat mit der Justiziarin des Erzbistums verfasst. Vermutlich habe der Beschuldigte Druck auf die Justiziarin ausgeübt, dass seine Akte sauber gehalten werde.

Merkwürdig ist auch: Laut Heße hat der Pfarrer, den er als "sehr unangenehm" in Erinnerung hat, die Taten in dem Gespräch gar nicht gestanden, sondern alle Vorwürfe von sich gewiesen. Ob das tatsächlich so war, lässt sich angesichts des tatsächlich fehlenden Protokolls nicht klären. Heße erklärte weiter, er sei in dieser Sache "entspannt" gewesen, da dies endlich mal ein Fall gewesen sei, in welchem die Staatsanwaltschaft aktiv Ermittlungen geführt habe.

Einschätzung von Assenmacher

Die stellte jedoch im März 2011 das Verfahren ein - was bei den Verantwortlichen im Erzbistum für Unsicherheit sorgte. Die Anwältin einer der Nichten drängte darauf, statt eines staatlichen wenigstens ein kirchliches Verfahren zu führen. Ihre Mandantin sehe sich zwar nicht in der Lage, vor einem Priester persönlich auszusagen, aber ihre schriftliche Aussage vor der Staatsanwaltschaft könne verwendet werden, teilte sie der Justiziarin mit. Die beriet sich mit dem Leiter des Kölner Kirchengerichts, Offizial Günter Assenmacher, und antwortete danach, dass eine persönliche Aussage der Betroffenen vor dem Kirchengericht erforderlich sei.

Laut Gutachten gab Assenmacher ausweislich der Akten die Einschätzung ab, dass der Fall weder kirchenrechtlich untersucht noch nach Rom gemeldet werden müsse, da die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zurückgezogen wurde. Die Justiziarin und auch Heße verließen sich auf diesen Rat. Assenmacher hingegen gab zu Protokoll, er habe auf die Frage der Justiziarin, ob der Fall nach Rom geschickt werden müsse, mit einer Gegenfrage reagiert, was man denn angesichts der zurückgezogenen Aussagen nach Rom schicken wolle. Er habe nicht gesagt, dass die Sache nicht nach Rom geschickt werden müsse. Dies sei im Übrigen auch gar nicht seine Aufgabe gewesen. Er sei nur Berater und nicht Entscheidungsträger gewesen.

Auch Schwaderlapp kurz beteiligt

Generalvikar Dominikus Schwaderlapp, heute Weihbischof in Köln, erfuhr bei einer gemeinsamen Beratung mit Heße, der Justiziarin und Assenmacher von dem Fall. Die informelle Runde soll sich regelmäßig nach dem Mittagessen im Büro des Generalvikars getroffen haben, um über Missbrauchsfälle zu beraten. Die Gruppe gelangte laut Schwaderlapp zu dem Schluss, "dass nichts weiter zu tun war". Das sei das einzige Mal, dass er selbst mit dem Fall zu tun gehabt habe. Danach habe er ihn nicht mehr "auf dem Schirm" gehabt.

Noch 2011 setzte Erzbischof Meisner, dem die Studie rund ein Drittel aller Pflichtverletzungen zuschreibt, U. wieder als Krankenhausseelsorger ein. Das Erzbistum beteiligte sich sogar mit 3.000 Euro an dessen Anwaltskosten.

Laut Gutachtern hätten Meisner und Schwaderlapp trotz der zurückgezogenen Anzeige eine kirchliche Voruntersuchung einleiten und den Fall nach Rom melden müssen. Allerdings machen sie ihnen ihr unterlassenes Handeln nicht zum Vorwurf, weil sie sich auf den Rat Assenmachers verlassen hätten. Ihm halten die Juristen vor, eine falsche Rechtsauskunft erteilt zu haben. Daneben habe Heße seine Pflicht verletzt, ein Protokoll von dem Gespräch mit dem Beschuldigten zu führen. Dies sehen die kirchlichen Leitlinien bei einer solchen Anhörung vor.

Erzbischof Rainer Maria Woelki rollte den Fall 2018 wieder auf. Er meldete ihn nach Rom und an die Staatsanwaltschaft und untersagte U. die Ausübung priesterlicher Dienste. Im vergangenen Jahr klagte die Staatsanwaltschaft Pfarrer U. vor dem Landgericht Köln an. Über die Eröffnung des Verfahrens muss das Gericht noch entscheiden. 

Erzbistum Köln

Das Erzbistum Köln zählt zu den bedeutendsten Diözesen in Deutschland. Mit rund 1,9 Millionen Katholiken hat es die meisten Mitglieder, gefolgt von Münster, Freiburg und Rottenburg-Stuttgart (je rund 1,8 Millionen). Das Vermögen liegt bei rund 3,8 Milliarden Euro. Damit liegt Köln auf Platz drei hinter Paderborn (7,15 Milliarden Euro) und München-Freising (6,1 Milliarden Euro).

Blick auf den Kölner Dom / © saiko3p (shutterstock)
Quelle:
KNA