DOMRADIO.DE: Obwohl Jesus selbst Jude war, ist auch die Geschichte des Christentums von Antisemitismus geprägt. Auf der Führungsebene der Kirchen hat sich das gründlich gewandelt. Aber wie verbreitet ist Antisemitismus unter den Gläubigen?
Prof. Dr. Gert Pickel (Professor für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig): In der Regel muss man sagen, dass die Gläubigen da kaum anders ticken als die Gesamtbevölkerung. Man ist nicht besser, man ist nicht offener gegenüber dem Judentum. Man hat genauso viel Antisemitismus wie Nichtgläubige auch.
DOMRADIO.DE: Wie äußert sich das zum Beispiel?
Pickel: In ganz unterschiedlichen Formen. Man hat natürlich noch Formen wie den klassischen Antisemitismus. Das ist aber nicht mehr so verbreitet, weil man weiß, dass man so etwas nicht mehr sagt. Aber über eine sogenannte Umweg-Kommunikation zieht man Israel als Beispiel heran. Das machen nicht nur Muslime, sondern das machen durchaus auch Christen indem sie sagen: "Na ja, jetzt schaut doch mal nach Israel, das sieht doch auch ganz schlecht aus."
Oder man nimmt eine zweite Form von Umweg-Kommunikation, die gerade in Deutschland sehr verbreitet ist. Indem man sagt: "Da muss doch irgendwann mal Schluss sein mit diesem Holocaustdenken." Gerade in Bezug auf das, was Sie angesprochen haben, ist es wichtig zu betonen "dass wir damit gar nichts mehr zu tun haben."
Diese Kommunikation macht den sogenannten sekundären oder Schuldabwehr-Antisemitismus aus. Der ist tatsächlich noch relativ weit verbreitet. Über 40 Prozent der Katholiken und Protestanten in Deutschland äußern sich da durchaus zustimmend.
DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Erklärung dafür?
Pickel: Man muss sagen, dass Antisemitismus sehr tief verwurzelt ist. "Immer dann, wenn man einen Sündenbock braucht, holt man den Antisemitismus wieder heraus", hat das mal jemand treffend beschrieben. Das sitzt ziemlich tief.
Gerade im Christentum kommt aber noch etwas Zweites hinzu. Wir dürfen nie die Konkurrenz, die Unzufriedenheit vergessen, die im alten Antijudaismus steckte. Die haben wir nämlich nicht ganz überwunden. Auch wenn wir immer so tun, so ganz haben wir das noch nicht hinter uns gelassen. So nach dem Motto: Eigentlich hätten Juden lernen müssen, dass sie besser Christen werden, sind es aber doch nicht geworden.
DOMRADIO.DE: Gibt es einen Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten in dieser Wahrnehmung?
Pickel: Die Unterschiede sind sehr gering. Es ist tatsächlich so, dass antisemitische Ressentiments bei Protestanten ein klein wenig seltener vorkommen. Das liegt vielleicht an dem etwas stärker ausgebauten christlich-jüdischen Dialog dort, aber das ist tatsächlich nur eine Nuance.
DOMRADIO.DE: Die Schere zwischen solidarischen Äußerungen Kirchenoberer und antisemitischen Ressentiments von Kirchenmitgliedern an der Basis klafft demnach auseinander. Was könnten denn Bischöfe und Bischöfinnen tun, um solchen Ressentiments zu entgegnen oder ihnen entgegenzuwirken?
Pickel: Wichtig ist auf jeden Fall, den Dialog darüber auch in den Kirchen zu führen. Sicherlich ist auch der Ausbau von Wissen über das Judentum hilfreich. Das hat man von jüdischer Seite schon eingefordert, dass wir nicht immer, wenn wir übers Judentum reden - so wie wir es im Prinzip jetzt auch wieder machen - über Antisemitismus reden, sondern auch über andere Teile des Judentums. Das kommt auch im Theologieunterricht eigentlich nicht vor.
Gerade christliche Pfarrerinnen und Pfarrer sind manchmal doch relativ hilflos. Sie können zwar Hebräisch, sind aber kaum in der Lage, irgendetwas über das moderne Judentum zu sagen.
Und drittens bräuchte es so viele Kontakte und so viel Austausch wie irgend möglich. Das ist nicht ganz einfach, da der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Deutschland gering ist. Aber gleichwohl muss man daran sicherlich arbeiten. Sich da zu positionieren, wäre durchaus schon mal eine wichtige Haltung, die Leitungen haben sollten.
Aber die Verantwortlichen müssen auch innerhalb ihrer Kirchen etwas bewegen.
Das Interview führte Tobias Fricke.