Palliativmedizin statt Beihilfe zur Selbsttötung

"Wir haben immer eine Alternative"

Viele Menschen haben Angst vor einem qualvollen Tod. Zu Unrecht, argumentieren Palliativmediziner und wehren sich gegen den assistierten Suizid als letzten Ausweg. Zu einer solchen Entscheidungssituation müsse es nicht erst kommen, sagen sie.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Patientin hält Karten mit Heiligenbildern in ihrer Hand / © Corinne Simon (KNA)
Patientin hält Karten mit Heiligenbildern in ihrer Hand / © Corinne Simon ( KNA )

Peter K. stirbt mit 62 Jahren an einem Bronchialkarzinom. Bis zum Schluss hatten er und seine Angehörigen gehofft, dass die Chemotherapie unmittelbar nach der Diagnose eine Verbesserung des schlechten Allgemeinzustands bringen würde. Vergebens. Auch eine Immun-Therapie schlägt nicht an. Bald ist klar, der Krankheitsverlauf lässt sich nicht aufhalten. Peter K. hat Panik und fürchtet einem Erstickungstod. Und das eigentlich vom ersten Tag an, als er sich mit seiner schlechten Prognose auseinandersetzt. Mit seinem Arzt spricht der Patient über seine Angst vor einem qualvollen Todeskampf. Doch dazu kommt es nicht. Am Ende schläft er friedlich ein. In der letzten Phase seiner Erkrankung lindert eine individuell dosierte Schmerztherapie die Luftnot. Und Peter K. ist nicht allein, als er stirbt. Es gibt Menschen, die seine Hand halten.

Möglich macht das eine allgemeine ambulante palliativmedizinische Versorgung – kurz AAPV genannt. Palliare heißt lateinisch lindern. Und darum geht es bei der Palliativmedizin: die Symptome und Schmerzen einer schweren – unter Umständen auch chronischen – Erkrankung zu lindern, damit Menschen bei schweren Verläufen nicht unnötig leiden. Und das nicht nur in der letzten Phase. "Palliativmedizin ist unsere Antwort auf das Urteil aus Karlsruhe, nach dem organisierte Hilfe beim Suizid von nun an straffrei ist", argumentiert Dr. René Drouven, Moderator des Palliativmedizinischen Netzwerkes Rhein-Berg und Internist in Bergisch Gladbach. Dieser Qualitätszirkel, dem rund 70 niedergelassene Allgemeinmediziner, Onkologen, Internisten und Strahlentherapeuten, aber auch Klinikärzte mit einer Zusatzausbildung in Palliativmedizin angehören, hat auf seiner letzten Sitzung die neue Rechtsprechung eingehend diskutiert. Und das durchaus kontrovers.

Die Möglichkeiten und Chancen von Palliativmedizin aufzeigen

"Einig aber sind wir uns darin, dass es bei einer engmaschigen Betreuung unserer Patienten gemeinsam mit ambulanten Pflegediensten gar nicht erst zu einer solchen zugespitzten Entscheidungssituation kommen muss, dem eigenen Leben vorzeitig ein Ende setzen zu wollen, wenn wir frühzeitig über die Möglichkeiten und Chancen der AAPV aufklären", argumentiert Drouven. Der Großteil der Palliativpatienten, die medizinische und pflegerische Versorgung benötigten, könne auf diese Weise gut versorgt werden. Geschulte ehrenamtliche Hospizmitarbeiter würden je nach Bedarf zusätzlich eingebunden.

"Bei unserem Zusammenschluss von Fachärzten geht es um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Wohl des einzelnen Patienten und seiner Angehörigen sowie seine bestmögliche Behandlung, bei der wir niemanden alleine lassen", betont Drouven. "Wir wollen in Bezug auf die Krankheitsentwicklung und denkbare Komplikationen vor allem Angst nehmen und aufzeigen, über welche Möglichkeiten und Chancen die Palliativmedizin heute verfügt. Niemand soll sagen müssen: Ich weiß nicht, was mit mir geschieht." Außerdem gehe es darum, Verständnis für die jeweilige Erkrankung zu wecken. Schließlich profitierten nicht nur Tumor-Patienten von der AAPV, sondern zum Beispiel auch COPD-Patienten, deren Lungenerkrankung durch jahrelanges Rauchen gesellschaftlich oft negativ belegt sei. Wer mit einer Leben verkürzenden Krankheit gestraft sei, dürfe nicht noch zusätzlich stigmatisiert werden, sondern mit einer bestmöglichen Betreuung rechnen, so der Mediziner.

"Ganz besonders deprimierend ist für einen Patienten, von seinem behandelnden Arzt zu hören: Ich kann nichts mehr für Sie tun." Natürlich gäbe es für einen verantwortungsbewussten Mediziner immer etwas zu tun, hält Drouven dagegen. Und wenn es nur darum gehe, größtmögliches Mitgefühl zu zeigen.

Palliativmedizin ermöglicht schmerzfreien Tod

"Wir haben immer eine Alternative zum assistierten Suizid", erklärt Dr. Dirk Hennesser, Koordinator dieses Palliativzirkels und in Bergisch Gladbach niedergelassener Onkologe und Hämatologe. "Nach meinen jahrelangen Erfahrungen in der Palliativ- und Hospizarbeit beruht der Wunsch nach assistiertem Suizid oft auf falschen Ängsten, die im eingehenden Gespräch mit dem Patienten aber fast immer ausgeräumt werden können. Denn das ist ja gerade der Sinn der Palliativmedizin: Die Menschen können mit solchen Maßnahmen heute länger leben und schließlich einen schmerzfreien natürlichen Tod sterben." Einen qualvollen Tod erlebe er im Hospiz nicht. "Denn wir haben alle Möglichkeiten, Schmerzen in der finalen Lebensphase zu lindern, so dass wir bei unserer Medikation eigentlich auch nie bis zum Äußersten gehen müssen."

Außerdem gehöre die vorzeitige Beendigung von Leben nicht in die Hand von Medizinern, selbst wenn der Gesetzgeber diese Beihilfe zu selbstbestimmtem Sterben legitimiere. Auch in einer freiheitsliebenden Gesellschaft müssten die beiden letzten großen Geheimnisse um die existenziellen Themen "Geburt" und "Sterben" bewahrt bleiben. "Wie sähe sonst eine Gesellschaft aus, wenn es keine Angst mehr vor dem Tod und keine Demut mehr vor dem Geborenwerden gibt." Trotzdem stehe die Entscheidungsfreiheit des Patienten im Fokus. "Jeder darf jederzeit das Gefühl haben: Ich werde gehört und ernst genommen."

Ein Leben und Sterben in Würde ist jederzeit möglich

Ganz wichtig ist den Palliativmedizinern, dass eine palliativmedizinische Betreuung schon sehr früh ansetzt, auch damit manche Sorge gar nicht erst entsteht und sich der Patient von Anfang an in die Therapie eingebunden fühlt. In einer intensiven Aufklärungsarbeit, die viel Zeit und Zuwendung erfordere, liege die eigentliche Herausforderung dieses Themas, sagt Hennesser. "Der Ausweg muss nicht Schweiz heißen und auch nicht Suizid. Wir sind für unsere Patienten da, stehen ihnen und den Angehörigen beratend zur Seite und wollen insgesamt für Erleichterung sorgen." Ein Leben und Sterben in Würde – das sei auch unabhängig von der neuen Rechtsprechung, die Ende Februar das seit 2015 geltende Verbot organisierter Hilfe beim Suizid zum Kippen gebracht hatte, jederzeit möglich.

"Auch wenn Palliativstationen und Hospize Orte des Sterbens sind, wird hier vor allem auch bis zum Schluss gelebt", stellt Hennesser fest. Das aber verdankten solche Einrichtungen vielen im Hospizwesen hochmotivierten Helfern, die liebevoll pflegten und immer ein Wort des Trostes bereit hielten. "Wir erleben immer wieder, wie unsere Patienten noch einmal mit der richtigen Behandlung geradezu aufblühen und ihre Lebensqualität mit palliativer Pflege deutlich verbessert wird."


Dr. Dirk Hennesser ist Koodinator eines palliativmedizinischen Qualitätszirkels / © Beatrice Tomasetti (DR)
Dr. Dirk Hennesser ist Koodinator eines palliativmedizinischen Qualitätszirkels / © Beatrice Tomasetti ( DR )

"Palliativmedizin ist immer eine Alternative", sagt Dr. Dirk Hennesser / © Beatrice Tomasetti (DR)
"Palliativmedizin ist immer eine Alternative", sagt Dr. Dirk Hennesser / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR