KNA: Vor fünf Jahren hat die Staatengemeinschaft in Paris das Klima-Abkommen verabschiedet. Es soll den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur im Vergleich zum vorindustriellen Niveau bremsen. Sind wir auf einem guten Weg?
Dirk Messner (Politikwissenschaftler und Chef des Umweltbundesamtes / UBA): Wir brauchen eine Beschleunigung bei allen Beteiligten. Ansonsten bleiben wir weiter auf dem Pfad, auf dem wir uns weltweit im Augenblick befinden: Eher in Richtung 3,5 Grad Temperaturanstieg anstatt der 1,5 bis 2 Grad, die wir uns in Paris vorgenommen haben und die nötig sind.
KNA: Die EU nimmt gerade einen neuen Anlauf in Sachen Klimaschutz. Wie stehen dort die Aktien?
Messner: Nach allem, was wir hören, denkt die EU-Kommission über eine Reduzierung von 55 Prozent der klimaschädlichen Treibhausgase bis 2030 nach; im EU-Parlament werden 60 Prozent diskutiert. Wir diskutieren das Thema natürlich auch gerade - und denken neben einen anspruchsvollen Ziel vor allem darüber nach, wie man das Ziel erreicht.
KNA: Inwiefern beeinflusst die Corona-Krise den Kampf gegen den Klimawandel?
Messner: Weltweit werden gerade enorme Konjunkturprogramme aufgelegt. Die G20-Staaten sehen in den kommenden 24 Monaten Investitionen von 10 bis 20 Billionen US-Dollar vor, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise abzufedern. Entscheidend wird sein, ob diese Investitionen in alte Strukturen fließen. Oder ob sie helfen, einen klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft voranzutreiben.
KNA: Können Sie Tendenzen erkennen?
Messner: Im deutschen Konjunkturpaket sind zwischen 30 und 40 Prozent der Mittel für Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Digitalisierung vorgesehen. Aus der Umwelt- und Nachhaltigkeitssicht des UBA ist immer noch Luft nach oben. Aber die Richtung stimmt. Offenbar findet auf der deutschen und europäischen Ebene ein Umdenken statt. Die Antwort der Kommission auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise lautet: den European Green Deal beschleunigen. Das ist ermutigend. Bei der Finanzmarktkrise 2008 war das noch anders. Da ging es nicht um Klimaschutz, sondern ausschließlich ums Wachstum.
Die Abwrackprämie für Autos war ein Sinnbild für Investitionen in die Vergangenheit.
KNA: Eine besonders negative CO2-Bilanz wird regelmäßig den Bereichen Verkehr und Bauen attestiert. Die Staus auf deutschen Straßen sind, so scheint es, inzwischen wieder auf Vor-Corona-Niveau angelangt. Währenddessen entstehen rund um die Städte immer neue Vorortsiedlungen und Gewerbegebiete mit einem teils beachtlichen Ressourcen- und Energieverbrauch. Warum ist das so?
Messner: Beim Bauen geht es um drei zentrale Dinge: Energieeffizienz, umweltfreundliche Baumaterialien, sowie Versiegelung und Landnutzung.
Bei den letzten beiden Punkten kommen wir nicht gut voran, weil wir seit langer Zeit vor allem auf Energieeffizienz geschaut haben. Das muss sich dringend ändern. Bundesumweltministerium und UBA haben vor wenigen Tagen den Bundespreis für Umwelt und Bauen vergeben. Da geht es um zukunftsfähiges Bauen, das Energieeffizienz, Kreislaufwirtschaft beim Bauen, Lebensqualität in Quartieren zusammenbringt. Da haben wir sehr interessante Vorhaben ausgezeichnet, die zeigen, was wir alles schon tun könnten.
KNA: Und beim Verkehr?
Messner: Fehlt es an Mut und Visionen. Dabei liegen alle Konzepte auf dem Tisch. Auch die Autoindustrie geht jetzt in Richtung Elektrifizierung, Carsharing ist längst kein Tabu mehr. Der Chef von VW spricht von einem CO2-Preis von 60 Euro. Oslo, Stockholm, Utrecht zeigen, wie menschen- statt autozentrierte Städte ausschauen. Lokale, regionale, nationale und europäische Politik kann in diesem Kontext beschleunigt handeln.
KNA: Wie könnte noch mehr Bewegung in die Sache kommen?
Messner: Indem wir zeigen, dass sich ökologische Nachhaltigkeit mit Lebensqualität und Gerechtigkeit verbinden lässt. Wir haben gerade ein Konzept vorgelegt, das sich "Verkehrswende für alle" nennt. Darin stellen wir Ansätze vor, die auch für das einkommensschwächste Drittel der Bevölkerung attraktiv sind. Man muss sich klar machen, dass zum Beispiel 20 Prozent aller Haushalte gar kein Auto haben, weil sie es sich schlicht nicht leisten können - und dennoch über die Steuern für die Straßeninfrastruktur zahlen.
Alle, die nicht mit dem Auto in der Stadt unterwegs sind oder sein wollen, brauchen mehr Freiräume in den Städten. Zudem sind die Kosten für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs stärker gestiegen als die für die Nutzung des privaten PKWs - das sind falsche Anreize.
KNA: Deutschland ist eben eine Autofahrernation.
Messner: Um eine Erhitzung des Planeten und eine Zerstörung unserer ökologischen Lebensgrundlagen abzuwenden, müssen wir Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig machen, Energiewende, Verkehrswende, Kreislaufwirtschaft, Landwirtschaft neu denken. Viele Menschen haben Angst vor Veränderung. Aber die gute Nachricht ist: Wir können die Wende zu mehr Nachhaltigkeit schaffen.
KNA: Wie kann das gelingen?
Messner: Entscheidend ist, erstens, ein Problembewusstsein zu entwickeln. Klima- und Umweltwandel sowie deren Folgen sind inzwischen in Deutschland allgemein bekannt. Zweitens müssen wir zeigen, dass wir gute Lösungen haben, um die Herausforderungen anzugehen, bei denen es, drittens, auch gerecht zugeht. Viertens müssen wir die Bürger an der Veränderung beteiligen. Wer eingebunden ist, wird sich erfahrungsgemäß dafür engagieren, die erzielten Kompromisse umzusetzen.
Fünftens müssen wir alle daran arbeiten, nicht nur über Energieeffizienz, Emissionsminderungsziele und Abfallquoten zu sprechen, sondern auch darüber, wie Nachhaltigkeit zu attraktiven Zukünften führen kann. Imagination, Kreativität, Perspektiven einer guten Zukunft sind die wichtigsten Kräfte, um Menschen für Veränderungen zu mobilisieren.
KNA: Müsste die Politik aber nicht auch den Druck auf Unternehmen erhöhen, die weitermachen wie bisher?
Messner: Natürlich. Wir müssen zum Beispiel von einer Abfallwirtschaft zu einer zirkulären Wirtschaft kommen, also beispielsweise Autos oder auch Häuser so bauen, dass man die einzelnen Materialien später wieder leicht und ohne viel Verlust weiterverwenden kann.
KNA: Reicht es, dabei auf Freiwilligkeit bei den Unternehmen zu setzen - oder wären etwa Steuern eine Möglichkeit, die Wirtschaft zu einem Kurswechsel zu bewegen?
Messner: Die Überlegung, Ressourcen- und Umweltverbrauch stärker zu besteuern und im Gegenzug die steuerliche Belastung von Arbeit zu reduzieren, gibt es seit über 20 Jahren. Leider ohne große Fortschritte - wir bleiben da aber dran. Denkbar wäre etwa, Baustoffe wie Beton höher zu besteuern, um die Nutzung von ressourceneffizienten Materialien voranzubringen.
KNA: Die Umwelt scheint schon jetzt am Limit zu sein. Fichten- und Insektensterben, dazu Dürre und Wassermangel haben im Sommer immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Müssen wir Angst vor einer Apokalypse haben?
Messner: Man sollte schon ein wenig differenzieren. Beispiel Wasser:
Da sieht es in Deutschland nicht nach Untergang aus. Das Wasserangebot sinkt zwar, aber noch können wir uns da anpassen - das sieht in wasserärmeren Ländern ganz anders aus. Mit Blick auf das Erdsystem stehen wir vor enormen Herausforderungen: Das Grönlandeisschelf schmilzt, das Amazonasgebiet könnte in einen Prozess der Wüstenbildung übergehen, das Monsunsystem in Asien verliert seinen Motor und könnte erodieren.
Wenn wir vor zehn Jahren gesprochen hätten, hätte ich Ihnen gesagt: Die Natur- und Erdsystemwissenschaft zeigt uns, dass wir jenseits von drei, vier Grad Erwärmung in diese Großrisiken hineinlaufen. Jetzt müssen wir feststellen: Diese Kipppunkte könnten bereits jenseits von zwei Grad erreicht werden. Es ist höchste Zeit, wirksam zu handeln.
KNA: Was macht das mit dem Chef des Umweltbundesamtes?
Messner: Ich bin optimistisch, weil ich im Gegensatz zu manchen anderen Beobachtern das, was in den vergangenen 20 Jahren passiert ist, nicht als Stagnation beschreibe. Wir haben eine Privatwirtschaft, die sich immer stärker an dieses Thema heranwagt, wir haben junge Menschen, die im Rahmen von "Fridays for Future" auf Veränderungen dringen, wir haben technologische Lösungen, wir kennen die Instrumente, die Wandel ermöglichen. Mit Immanuel Kant: die Bedingungen der Möglichkeit zur Veränderungen sind jetzt da - das war vor 15 oder 20 Jahren noch ganz anders.
KNA: Aber?
Messner: Sorge macht mir der Zeitdruck, unter dem wir die Probleme lösen müssen.
Das Interview führte Joachim Heinz.