Gehen oder bleiben? Selten hat diese Frage die Katholiken in Deutschland so bewegt wie heute. Der Vertrauensverlust infolge des Missbrauchsskandals ist immens, der Exodus ungebremst: 2021 kehrten 359.338 Katholikinnen und Katholiken ihrer Kirche den Rücken, deutlich mehr als 2019, als mit 272.771 der bislang höchste Wert gemessen wurde.
Vom Ende der "Volkskirche" ist die Rede. Erstmals gehören weniger als die Hälfte der Bundesbürger einer der großen Kirchen an.
Säkularisierung schreitet voran
Aus Sicht des Bonner Kirchenhistorikers Christoph Kösters schreitet die Entkirchlichung zwar gegenwärtig rasend schnell voran. Allerdings habe die Krise schon viel früher begonnen. Es gebe langfristige gesellschaftliche Kräfte der Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung. So sank der Gottesdienstbesuch bereits seit Ende des Ersten Weltkriegs, als noch mehr als 50 Prozent der Katholiken regelmäßig an der Sonntagsmesse teilnahmen. Heute sind es unter 4,3 Prozent.
Dabei nahm die Säkularisierung seit den 60er Jahren stark an Fahrt auf: "Offenkundig suchte sich ein wachsender Teil der Gläubigen neue Formen gesellschaftlichen und individualisierten Katholischseins, die nicht mehr ausschließlich an den Gottesdienstbesuch geknüpft waren", so der Historiker von der Kommission für Zeitgeschichte.
Aus Sicht des Luzerner Historikers Antonius Liedhegener ist die Krise mittlerweile "lebensbedrohlich". Er spricht von einer winterlichen, tief erstarrten Kirche: "Alle Versuche, einem neuen religiösen Frühling in Deutschland eine Chance zu geben, scheinen durch die klerikale Reformstarre zur Fruchtlosigkeit verdammt", erklärte er Ende Mai beim Katholikentag in Stuttgart. Auch die verbleibenden Kirchenmitglieder gingen zunehmend auf Distanz.
Liedhegener verweist auf eine Studie von 2019: Rund 15 Prozent der Katholiken in Deutschland seien "inaktiv". 60 Prozent gehörten zu den "Gelegentlichen" mit vielleicht monatlicher Gottesdienstteilnahme, 10 Prozent seien "Teilhabende" und noch 14 Prozent "Gestaltende", die sich auch außerhalb von Gottesdiensten in der Kirche einbringen.
Junge Generation abgehängt
Die Wiener Theologin Regina Polak sieht einen dramatischen Abbruch bei der Weitergabe des Glaubens an die jüngere Generation. "Die katholische Kirche droht eine ganze Generation zu verlieren oder hat eine große Mehrheit schon verloren", sagt sie. Und von jenen, die sich noch beteiligten, resignierten oder schämten sich viele für ihre Kirche. Insbesondere junge Frauen.
Als Ursachen nennt Polak einerseits die von den Kirchen kaum zu verändernde Tendenz zur Säkularisierung und Individualisierung.
Religion habe kaum noch Einfluss auf die Wertebildung junger Leute, die vor allem im digitalen Raum stattfinde. Zugleich seien aber die dauerhaft ungelösten innerkirchlichen Konflikte ein Klotz am Bein.
Außerdem sei es der Kirche nicht gelungen, die Glaubenstradition so neu zu "übersetzen", dass sie für junge Leute nachvollziehbar sei. Das gelte nicht nur für Sexualität und Genderfragen.
Polak räumt zugleich ein, dass es auch die liberalen Katholiken nicht geschafft hätten, den Glauben an die nächste Generation weiterzugeben. "Viele sind bei der notwendigen Kritik stehen geblieben, aber auf die Frage 'Wie anders' gibt es zu wenige tragfähige Antworten."
Was kann man nun tun?
Was ist aus Sicht der Fachleute zu tun? Kösters kritisiert, dass die Kirche Reformen, deren Notwendigkeit bereits vor 50 Jahren erkannt worden seien, so lange verschleppt habe. Für ihn drängt sich besonders die Frage auf, "welche Auswirkungen es für die katholische Kirche in einer multiplen säkularen deutschen Gesellschaft künftig haben wird, dass Katholikinnen wohl noch auf lange Sicht nicht zum kirchlichen Amt zugelassen werden".
Für Liedhegener steht fest, dass die Kirche zu einer "Mitmachkirche" mit veränderten Strukturen und weniger Hierarchie werden muss. Sie müsse wieder stärker von unten nach oben organisiert werden.
Aus Sicht von Polak muss Kirche die Erfahrungen und Denkweisen junger Menschen ernster nehmen und sich mit ihnen auch theologisch auseinandersetzen: "Junge Menschen sollten als 'Prophet/innen' wahrgenommen werden." Sie seien interessierter an der Zukunft und damit näher an den Fragen, "in deren Horizont das Evangelium und die Tradition heute in Theorie und Praxis reinterpretiert werden müssen".