KNA: Viel war vom Schub für die Digitalisierung durch Corona die Rede. Wie haben Sie dies erlebt?
Prof. Wolfgang Huber (Theologe und Sozialethiker): Im eigenen familiären Umkreis habe ich intensiv beobachtet, welchen Auftrieb die Digitalisierung im Bereich der Schulen erfahren hat. Die schulische Wirklichkeit hat sich verändert, nicht nur durch verstärktes "Home-Office" auch für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch insofern, als sie sehr schnell zu Profis im Umgang mit den digitalen Medien werden mussten. Die Welt ist in vielen Hinsichten nicht mehr so, wie sie vor der Corona-Pandemie gewesen ist - und das betrifft auch die Digitalisierung.
KNA: Es gibt aber auch Kritik, etwa an der bisweilen mangelhaften technischen Ausstattung von Schulen. Wo sehen Sie Nachbesserungsbedarf?
Huber: Den wichtigsten Nachholbedarf im Bereich der Schule sehe ich darin, dass wir digitale Bildung brauchen. Sie erschöpft sich nicht darin, technische Fertigkeiten zu vermitteln. Es geht auch darum, verantwortlich mit diesen Möglichkeiten umzugehen - schlicht gesagt darum, Geräte nicht nur an-, sondern auch auszustellen. Ein vernünftiger Umgang mit dieser Technik ist nur dann gegeben, wenn es auch Zeiten gibt, die digitalfrei sind.
KNA: Kirche und Digitales - die Kombination erscheint manchem immer noch befremdlich. Was sagen Sie dazu?
Huber: Wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass die Kirchen die Entwicklungen der Kommunikation immer mitgemacht haben - und teils an der Spitze des Fortschritts standen. Die große Analogie zur Digitalisierung ist der Buchdruck, das vielleicht wichtigste technologische Ereignis des zweiten Jahrtausends nach Christi Geburt.
Das erste Buch, das Gutenberg gedruckt hat, war die Bibel. In der Folge hat der Buchdruck ermöglicht, dass Ablassbriefe in großer Zahl erstellt wurden und nur noch die Namen der Empfänger händisch dazugeschrieben werden mussten. Die große Debatte über den Ablasshandel und die Reformation, die dadurch ausgelöst wurde, waren nur möglich durch die weite Verbreitung von Flugblättern und anderen Schriften.
KNA: Und heute?
Huber: Später haben die Kirchen die Möglichkeiten von Funk und Fernsehen genutzt, um ihre Botschaft zu verbreiten. Während der Pandemie haben auch sie einen digitalen Schub erfahren, der nicht wieder rückgängig gemacht werden kann oder soll.
KNA: Jenseits dieser technisch-praktischen Ebene machen Sie in Ihrem Buch auch deutlich, dass die Kirche zu ethischen Fragen wie einem veränderten Menschenbild viel zu sagen hat.
Huber: Das ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Auch die Biowissenschaften und die Möglichkeiten der Genforschung stellen uns vor die Frage: Was sind die Essentials des christlichen Menschenbildes, an denen wir festhalten wollen und die wir neu profilieren müssen?
KNA: Welche sehen Sie?
Huber: Eine besondere Herausforderung der Digitalisierung ist der Umgang mit digitaler Intelligenz. Wir sollten die menschliche Intelligenz nicht kleinreden, weil mit digitaler Intelligenz riesige Datenmengen gespeichert werden können. Denn sie verfügt nicht über die Möglichkeit, autonom und verantwortlich mit diesen Daten umzugehen - das bleibt eine menschliche Aufgabe. Deswegen muss unser Ziel sein, an der Autonomie des Menschen festzuhalten und sie nicht Maschinen, gar Waffen zuzusprechen.
KNA: Sind die Kirchen bei dieser Debatte präsent genug?
Huber: Natürlich kann da noch mehr geschehen, sowohl bei der theologischen Durchdringung dieser Themen als auch in der kirchlichen Bildungsarbeit und im Bereich der Seelsorge. Die Digitalisierung ist ein wichtiger Bestandteil jedes menschlichen Lebens geworden und muss deshalb auch in diesen Grundvollzügen kirchlichen Lebens berücksichtigt werden.
KNA: Stichwort Waffen: Sie schreiben, dass die Digitalisierung von Krieg mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine neue Dimension erreicht habe. Was folgt daraus?
Huber: Daraus folgt zunächst, dass wir uns diese Realitäten klarmachen müssen. Zugleich könnte kriegerische Gewalt künftig auch abgewendet werden, weil es neue Möglichkeiten der Kommunikation gibt. Aus der Ukraine wird berichtet, dass es eine "digitale Armee" von 300.000 Menschen gebe. Darin liegt nicht nur etwas Beunruhigendes. Wenn eine so große Zahl von Menschen ihr Land mit nicht-militärischen Mitteln verteidigt, kann das zu einer Deeskalation beitragen.
KNA: Manche Forscher befassen sich mit der Frage, ob Maschinen ein moralisches Dilemma lösen können. Was meinen Sie dazu?
Huber: Es kann sein, dass Maschinen das können - wenn man sie so programmiert hat, dass ihnen die Kriterien, nach denen sie entscheiden sollen, vorgegeben sind. Dass sie die Fähigkeit des Sortierens haben, ist unbestritten, aber Voraussetzung für eine moralisch-ethische Entscheidung sind die Kriterien, nach denen sortiert wird. Diese Kriterien müssen Menschen vorgeben. Und wenn Maschinen beispielsweise Bewerber entsprechend ihrer Eignung "sortieren", muss auch das Resultat von einem dafür verantwortlichen Menschen überprüft werden. Das gilt auch für den Gesundheitsbereich oder die Entscheidung rechtlicher Konflikte: Es kann nur darum gehen, dass Maschinen eine menschliche Entscheidung vorbereiten.
KNA: Sie werben für eine Versachlichung der Debatte. Bräuchte es dafür mehr Wissen über digitale Prozesse?
Huber: Vor allem braucht es eine Ermutigung, dass Menschen sich dieser Verantwortung stellen und sich nicht in einen Dualismus von Euphorie und Apokalyptik hineinziehen lassen. Technische Geräte sind von sich aus weder gut noch böse, sondern wirken sich je nach Gebrauch gut oder schlecht aus. Wichtig ist, Herr dieser Geräte zu bleiben.
KNA: Zuletzt wurden manche kritischen Aspekte wie Datenschutz wenig diskutiert. Wie lässt sich künftig über Chancen und Risiken von Digitalisierung sprechen?
Huber: Wir müssen konsistent bleiben in den Maßstäben, die wir für richtig halten. Die informationelle Selbstbestimmung hat in Deutschland den Charakter eines Grundrechts und hängt eng mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zusammen. Außerhalb des Bereichs staatlicher Verantwortung, im Umgang mit den großen Plattformen, nehmen Menschen jedoch eine Nutzung ihrer persönlichen Daten in einem Umfang hin, den sie im staatlichen Bereich nie dulden würden.
Mit dieser Blauäugigkeit muss Schluss sein. Es braucht mehr Verantwortlichkeit, und zwar auf allen Ebenen: bei den einzelnen Nutzerinnen und Nutzern, bei den Anbietern und bei den rechtlichen Rahmenregelungen.
Das Interview führte Paula Konersmann.