domradio.de: Hatten sie gehofft, dass das Landgericht die "Scharia-Polizei" verbietet?
Dr. Werner Kleine: Das ist natürlich ein ganz schwieriges Thema. Wenn Islamisten mit roten Warnwesten, auf deren Rückseite "Scharia-Polizei" steht, durch Wuppertal ziehen, Leute ansprechen und zu einem nach ihrem Verständnis sittlichen Lebenswandel anhalten, dann finde ich das persönlich schon bedenklich, denn es wird auf diese Art in die persönliche Lebensführung von Menschen eingegriffen. Es waren junge Leute, die in meinen Augen gar nicht gefestigt sind, die aber durch die salafistische Anbindung in eine sektenähnliche Extremrichtung tendieren. Ob das nun alles justitiabel ist, steht auf einem anderen Blatt Papier. Aber es tut der Öffentlichkeit, glaube ich, nicht gut, wenn man den Eindruck bekommt, dass eine Rechtspraxis durch eine eigene Polizei geschaffen und kontrolliert wird. Wir kennen das ja auch schon von sogenannten Bürgerwachen, die durch Viertel patrouillieren. Auch das sehe ich übrigens sehr skeptisch, wenn neben den öffentlichen Rechtsorganen eine eigene Organisation entsteht, die auf eigene Faust für Recht und Ordnung sorgen möchte.
domradio.de: In der Urteilsbegründung steht, dass von einer orangefarbenen Weste keine Bedrohung für den Menschen ausgehe. Kann man das denn wirklich so sagen, wenn in Wuppertal und in Deutschland die Öffentlichkeit davon schockiert gewesen ist?
Dr. Werner Kleine: Wenn Sie im Kölner Karneval Menschen mit orangefarbenen Westen sehen, dann bekommen Sie erst einmal keine Angst. Wenn ich hier in Wuppertal die jungen Männer mit ihren Zauselbärten in ihren farbigen Westen sehe, dann empfinde ich das schon fast als karnevalesk. Das ist das eine. Ein anderer Aspekt ist aber, dass auf den Westen hinten "Scharia-Polizei" drauf stand. Und bei "Scharia" würde ich auch keinen Spaß verstehen. Dabei geht es um Rechtssysteme, die im Islam existieren und in manchen Ländern tatsächlich Rechtskraft besitzen. Da müssen wir schon aufpassen, dass hier in Deutschland nicht eine Rechtspraxis neben der öffentlichen, staatlichen Rechtspraxis entsteht. Wahrscheinlich, so blauäugig sollte man nicht sein, gibt es das in manchen Vierteln, die entsprechend von der Bevölkerung strukturiert sind, in Deutschland bereits. Wir wissen ja, dass dort sogenannte "Friedensrichter" aktiv sind. Wenn junge Menschen jetzt mit dem Schriftzug "Scharia-Polizei" durch eine Stadt wie Wuppertal laufen, dann darf uns das nicht egal sein.
domradio.de: Sie sehen es also als Grundsatzfrage. Was in Wuppertal passiert ist, ist dann eher ein "Dummer-Jungen-Streich"? Kann man das so sagen?
Dr. Werner Kleine: Ich habe Kontakt zu einem der Beteiligten der "Scharia-Polizei" gehabt. Der kam wenige Tage später mit seiner Mutter zu mir. Der Mann war Mitte bis Ende zwanzig Jahre alt. Mit ihm haben wir uns länger unterhalten, was ihn zu seinem Auftreten bewogen hat. Es war ein ehemaliger Katholik, der irgendwann zum Islam konvertiert ist, weil ihm katholische Seelsorger seine Lebensfragen nicht beantworten konnten. Dann ist er auf Umwegen an die Salafisten geraten, die ihm auf schwierige Fragen ganz einfache Antworten präsentiert haben. Das ist genau der Angelhaken, mit dem die Salafisten bei jungen Menschen versuchen, Anhänger zu fischen. Jetzt sind das alles Leute, die persönlich noch nicht besonders gefestigt sind und nun gibt man diesen Menschen, die einen Halt im Leben suchen, eine rote Warnweste und sagt ihnen, sie sollen nun für Recht und Ordnung sorgen. Das gibt jemandem, der sich selbst noch nicht gefunden hat, ein gewisses Machtgefühl. Das ist genau die Gefahr, die damit verbunden ist, weswegen ich das alles andere als oberflächlich betrachte. Ich meine, man sollte das nicht dulden, und die Staatsanwaltschaft Wuppertal lässt dieses Urteil ja auch nicht so auf sich beruhen.
domradio.de: Da müssten doch dann die Kirchen gefragt sein, um den Menschen andere Perspektiven zu bieten, oder?
Dr. Werner Kleine: Als Katholische Citykirche Wuppertal stehen wir schon sehr lange auf den Plätzen und Straßen der Stadt. Ich komme dabei immer wieder in den Kontakt mit jungen Muslimen, die uns schon sehr offensiv, um nicht aggressiv zu sagen, und lautstark angehen. Jetzt bin ich eine Person, die dagegen ansteht und sich damit auseinandersetzt. Ich erlebe aber doch in bestimmten Situationen, dass sich manche auch wegducken, denn es wirkt manchmal schon ein bisschen bedrohlich. Das ist für mich auch der springende Punkt: Inwiefern treten wir als Katholische Kirche öffentlich und lautstark dagegen auf? Das ist keine Frage von Einzelpersonen. Wir sollten auch an den Orten Präsenz zeigen, an denen diese sektenähnlichen Gruppierungen unterwegs sind. Die Orte, an denen wir als Katholische Kirche präsent sein müssen, sind vor allen Dingen die Schulhöfe. Sind wir mit unseren Jugendarbeitern auf den Schulhöfen oder überlassen wir dieses Terrain den Salafisten? Kürzlich sagte ein älterer Aussteiger im Fernsehen, dass unter den Salafisten hervorragende Sozialarbeiter sind. Das würde ich fast unterschreiben wollen, wenn es nicht so missverständlich wäre. Die wissen ganz genau, wie sie ihre Leute anzusprechen haben. Und da sind wir als Kirche nicht präsent. Wir müssen hin auf die Schulhöfe. Wir dürfen unsere Jugendarbeit nicht nur in den Pfarrzentren und Kirchen machen. Wir müssen dahin, wo die Jugendlichen sind und verhindern, dass die in die Hände von Extremisten gelangen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.