DOMRADIO.DE: Ihr frisch erschienenes Buch heißt "Eingebunden in den Beutel des Lebens: Christliche Schöpfungsethik". Das ist ein weites Feld, das wir mit Ihnen beleuchten wollen. Was ist denn der Beutel des Lebens?
Michael Rosenberger (Moraltheologe und Buchautor): In der Bibel wird von diesem Beutel des Lebens gesprochen, im Alten Testament. Da handelt es sich um einen uralten Brauch, wenn ein Herdenbesitzer die Hirten mit seiner Herde auf Wanderschaft geschickt hat. Es waren ja damals weite Strecken, die mit den Herden zurückgelegt wurden. Dann hat man vorher die Tiere gezählt und für jedes der Tiere hat man in diesen Beutel des Lebens einen Stein hineingelegt. Und wenn die Hirten dann nach einem halben Jahr oder nach einem Jahr mit der Herde zurückkamen, dann wurden zunächst einmal die neugeborenen Tiere abgezogen. Und anschließend hat man verglichen, ob die Zahl der Tiere und die Zahl der Steine im Beutel des Lebens übereinstimmen. Und das finde ich eigentlich ein sehr schönes Bild, weil es ausdrückt, dass jedes Tier, jedes Individuum kostbar ist, dass es zählt und dass die Hirten damit auch aufgefordert sind, sehr, sehr sorgsam mit den einzelnen Tieren umzugehen, damit sie tatsächlich dann alle wieder zu ihrem Besitzer zurückbringen können.
DOMRADIO.DE: Das Thema Schutz der Erde und die Frage nach der Dramatik und der Dringlichkeit. Sie sind ein umweltbewegter Priester und waren in den 70er-Jahren schon mit Jute statt Plastik und Anti-AKW-Bewegungen aktiv in regionalen Umweltgruppen gewesen. Was unterscheidet in Ihren Augen diese Umweltbewegungen von damals von der heutigen Lage?
Rosenberger: Die Dramatik hat sich enorm zugespitzt seitdem. Man kann einerseits sagen, unsere Welt ist wesentlich stärker dem ökonomischen Druck ausgesetzt. Die Globalisierung hat noch mal einen riesigen Schub an ökonomischen Aktivitäten gebracht. Und diese ökonomischen Aktivitäten nehmen in vielen Fällen keine Rücksicht auf die Begrenztheit und die Zerbrechlichkeit unserer Erde, sondern beuten einfach die Ressourcen so weit aus, wie es geht. Auf der anderen Seite muss man sagen: Dadurch, dass wir die letzten 40, 50 Jahre eigentlich sehr wenig gegen die ökologischen Probleme getan haben, haben sie sich aufsummiert und so ist natürlich die Bedrohung für die Erde wesentlich schärfer geworden, als sie das damals gewesen ist.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, es sind schon vier Jahrzehnte, in denen das Problem auf der Agenda war. In Rio war 1992 der erste Klimagipfel. Ist denn wirklich so gar nichts passiert seither?
Rosenberger: Jedenfalls sehr wenig. Es ist schon etwas passiert. Wir haben im Bereich technischer Innovationen sehr viel eigentlich vorangebracht. Die Autos sind viel sparsamer, als sie vor 30 Jahren waren. Die Wohnungen, die Häuser sind zumindest in den reichen Ländern der Welt wesentlich besser wärmegedämmt. Das heißt, wir haben schon auch einiges getan, um technisch etwas weiterzubringen. Das Problem liegt aber darin, dass wir im gleichen Zeitraum alles, was an technischen Verbesserungen geschehen ist, für unseren eigenen Lebensstil wieder ausgenutzt haben. Wir heizen heute nicht mehr einen Raum in der Wohnung, sondern drei oder vier Räume. Und wir heizen sie nicht auf 20 oder 21 Grad, sondern auf 23 oder 24 Grad. Wir fahren mit dem Auto 30 bis 40 Prozent mehr Kilometer, als wir es damals gefahren sind. Und wenn ich 30 Prozent Benzin einspare, aber 30 Prozent mehr Kilometer fahre, dann läuft es auf ein Nullsummenspiel raus. Also in den allermeisten Bereichen haben wir die durchaus beachtlichen technischen Innovationen, die seitdem passiert sind, aufgefressen, indem wir unseren Lebensstil noch komfortabler, noch anspruchsvoller gestaltet haben. Und die Umwelt hat am Ende nichts davon abbekommen.
DOMRADIO.DE: Heißt das, wir setzen immer noch unser Einzelwohl über das Gemeinwohl?
Rosenberger: Das kann man auf jeden Fall so sagen, ja. Letztendlich setzen wir unser Wohlergehen als jetzt lebende Menschen über das Wohlergehen der kommenden Generationen und damit letztlich zumindest ein Gruppewohl – würde ich mal sagen – über das Allgemeinwohl.
DOMRADIO.DE: Was unterscheidet Schöpfungsethik von Umweltethik?
Rosenberger: Eigentlich nur die Perspektive. Es geht in beiden Fällen darum zu schauen, wie können wir mit einer begrenzten Welt sorgsam und achtsam umgehen, sodass sie auch morgen und in 100 Jahren oder in tausend Jahren noch lebenswert ist? Aber Schöpfungethik fragt sich dieses aus einer religiösen Perspektive heraus, während Umweltethik eher die säkulare Variante ist, von Menschen, die jetzt nicht aus gläubiger Perspektive hinschauen. Und beides ist legitim. Beides ist wichtig. Natürlich müssen auch religiöse und nichtreligiöse Menschen in diesem Engagement für die Umwelt zusammenarbeiten. Aber es ist natürlich wichtig, den religiösen Menschen auch mit seinen religiösen Motivationen abzuholen. Und da kann Schöpfungsethik einfach auch anknüpfen an uralte Glaubensüberlieferungen, die auch schon vor 2000 bis 2500 Jahren uns sagen: Vorsicht, geh mit deiner Umwelt sorgsam und achtsam um, weil sie ein Geschenk des Schöpfers ist.
DOMRADIO.DE: Die Geschichte von Noah und der Arche in der Bibel, die kennt wahrscheinlich auch der Kirchenfernste. Ist das die Paradeanweisung an uns Christen, wie wir mit unserer Erde und den Mitgeschöpfen umzugehen haben?
Rosenberger: Ja, das glaube ich in der Tat. Es ist eine faszinierende Geschichte aus dem Alten Testament, und dass sie jeder kennt, spricht ja dafür, dass sie so eine starke Aussagekraft hat. Da ist dann Noah, der als einziger begreift, dass die Erde als Ganze bedroht ist. Und das ist ja schon mal etwas, was zur heutigen Situation eine durchaus gute Analogie bildet. Noah sieht, wie die Flut immer weiter steigt und mit der Flut ist natürlich dort in der Geschichte gemeint die Gewalt, die Zerstörung durch die Menschen. Und sie bedroht nicht nur andere Menschen, sondern bedroht die ganze Schöpfung, alles was lebt. Und Noah reagiert, und zwar sehr schnell, baut dieses Rettungsboot und nimmt jetzt stellvertretend von allen Tier- und Pflanzenarten etwas mit hinein in seine Arche. Das heißt, er hat begriffen, er kann selber nicht überleben, ohne die Tiere, ohne die andere Schöpfung und holt alle mit in sein Boot. Und tatsächlich überleben sie dann miteinander. Und der schöne und hoffnungsvolle Schluss der Geschichte ist ja, dass Gott mit Noah, aber so heißt es ausdrücklich in der Bibel, auch mit allen Geschöpfen, die mit ihm in der Arche waren, einen Bund schließt, eine Abmachung trifft, das soll nie wieder passieren. So viel Gewalt soll nie wieder über die Erde kommen. Und darauf verpflichtet sich einerseits Gott, aber darauf verpflichten sich auch die Menschen stellvertretend für sie, Noah und seine Familie.
DOMRADIO.DE: Jetzt könnte man natürlich sagen: Aber wir sind ja auf dem besten Weg wieder genau dahin.
Rosenberger: Ganz genau. Und das ist natürlich die Mahnung, die in dieser Erzählung steckt. Lieber Mensch, der du das liest oder hörst, pass auf, dass wir nicht wieder dort landen. Der Bund, der von Gott geschlossen wurde, ist gleichzeitig auch eine Verpflichtung für uns alle, etwas zu tun, alles zu tun, was wir können, damit nicht so eine unheilvolle Situation kommt.
DOMRADIO.DE: Die Kirche soll nach den Zeichen der Zeit forschen und sie im Lichte des Evangeliums deuten, steht in Ihrem Buch. Tun wir das?
Rosenberger: Das ist zunächst mal ein Zitat aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Und da hat sich die Kirche genau das vorgenommen. Die Frage ist dabei immer: Wer ist die Kirche? Wenn man Papst Franziskus als "die Kirche" nimmt, kann man sagen, er hat die Zeichen der Zeit so verstanden, wie sie Noah verstanden hat. Das heißt, er hat mit seiner Enzyklika "Laudato si" ein ganz klares Signal gegeben, was er auch von allen Menschen in der Kirche, aber auch von allen Menschen in der Welt erwartet und zugleich, was er selber natürlich auch zu tun beabsichtigt. Wenn wir jetzt sagen, die Kirche sind auch viele Pfarrer oder einfache Christinnen und Christen, dann würde ich sagen, hat ein großer Teil diese Zeichen der Zeit momentan leider noch nicht erkannt. Und da haben wir also schon noch Nachholbedarf, diese Botschaft der Enzyklika auch für uns selber ernst zu nehmen,
DOMRADIO.DE: Wenn die Hoffnung eine Domäne der Religion ist. Wie kann ich diese Hoffnung finden, auch angesichts der gerade laufenden Klimakonferenz in Glasgow? Oder gibt es Absichtsbekundungen und Ausstiegsszenarien bis 2070 aus der Kohle. Es ist aber alles nicht so handfest bisher?
Rosenberger: Das ist richtig. Da ist viel oberflächliches Gerede, Vertröstungen. Man verschiebt Dinge, so wie jetzt die Urwaldrodungen, die man noch mal um zehn Jahre verschieben will. Also es sind schon noch nicht die Signale und die Entschlüsse, die eigentlich nötig wären.
DOMRADIO.DE: Gibt es denn Szenarien, wo sie sagen, dass wir Christen aus der Bibel Hoffnung ziehen können? Wie können wir unsere Aktivitäten und unsere Energie speisen?
Rosenberger: Ich glaube das Wichtigste ist, dass wir verstehen lernen, was Hoffnung ist und was sie nicht ist. Ich unterscheide sehr grundlegend zwischen Hoffnung und Optimismus. Optimismus würde heißen, ich habe die Erwartung, dass in fünf bis zehn Jahren das Treibhausproblem gelöst wird, dass wir auf den richtigen Pfad kommen, dass alles gut geht. Hoffnung ist was anderes. Hoffnung heißt, ich weiß nicht, ob es gut gehen wird oder nicht. Ich sehe eine Möglichkeit und ich versuche von meiner Seite alles zu tun, dass wir diese positive Möglichkeit ergreifen, weil es Sinn macht, weil es richtig ist, diesen Schritt zu gehen. Und ich gehe ihn aus diesem Grund heraus, aus dieser Überzeugung, dass es Sinn macht. Dann brauche ich nicht enttäuscht sein, wenn vielleicht Rückschläge kommen, wenn die Bemühungen nicht zu Erfolg zeitigen, wie wir das vielleicht uns erwarten, und kann trotzdem weiter am Ball bleiben, weiter mein Engagement führen.
DOMRADIO.DE: Wie viel Radikalität brauchen wir, um dem Planeten und uns das Überleben zu sichern?
Rosenberger: In den Industrieländern braucht man schon viel Radikalität. Letztlich spricht Papst Franziskus von einer kulturellen Revolution, die nötig ist. Und das würde ich durchaus teilen. Revolution heißt ja, wir müssen die Dinge auf den Kopf stellen, also unsere Art, wie wir gewirtschaftet haben, unsere Art, wie wir in den letzten Jahrzehnten gelebt haben, konsumiert haben, unsere Freizeit gestaltet haben. Da muss sich ganz, ganz viel verändern, um eben tatsächlich auch weniger Ressourcen zu verbrauchen und der Umwelt mehr Lebensmöglichkeiten zu geben. Also das ist schon ziemlich radikal, was da gefordert ist.
Das Interview führte Uta Vorbrodt