Armut in Spanien steigt durch Corona massiv

Zulauf bei Suppenküchen

Die Corona-Krise treibt viele Menschen in Spanien in die Armut. Das bekommen die Suppenküchen und Armenspeisungen deutlich zu spüren. Hier landen all jene an, die ihre kleinen Einkommen verloren haben.

Autor/in:
Manuel Meyer
Lebensmittelausgabe in Madrid / © Manuel Meyer (KNA)
Lebensmittelausgabe in Madrid / © Manuel Meyer ( KNA )

Miguel weiß nicht, wo er sich anstellen muss. Auf dem Platz vor der Kirche San Ramon Nonato im Madrider Arbeiterviertel Vallecas stehen die Menschen in zwei unterschiedlichen Schlangen für Essen an. Schüchtern nähert sich der 69-Jährige dem Pfarrer Jose Manuel Horcajo und erkundigt sich. Miguel schämt sich. Es ist das erste Mal, dass er zur Suppenküche der Pfarrei kommen muss.

"Mein Sohn hat seinen Job verloren, er wohnt jetzt wieder bei uns. Wir haben keinerlei Einkünfte außer meiner kleinen Rente und kommen einfach nicht ans Monatsende. Einige Tage hatten wir kein Abendessen", entschuldigt sich der frühere LKW-Fahrer. Sein Sohn German schlägt sich seit Jahren mit Gelegenheitsjobs durch. Zuletzt arbeitete er "schwarz" als Keller in einer Madrider Kneipe. Doch mit dem Corona-Alarmzustand musste der Wirt Mitte März schließen. Anrecht auf Arbeitslosengeld hat German nicht; der Antrag auf Sozialhilfe läuft.

Starker Anstieg der Zahl der Hilfsbedürftigen

Die Miete kann Miguel mit seiner Rente noch bezahlen. "Doch bete ich jeden Tag, dass man uns nicht Wasser und Strom abdreht. Unser Kühlschrank bliebe leer, wenn wir uns hier nicht Essen abholen könnten", sagt er mit leiser Stimme. Pfarrer Horcajo schaut auf sein iPad und prüft, ob Miguel tatsächlich Anspruch auf die tägliche Armenspeisung hat. Die Hilfsbedürftigen müssen sich zuvor im Pfarramt melden und ihre Notlage belegen.

Horcajo schwitzt unter seiner Schutzmaske. Die Sonne blendet ihn bei der Suche auf der langen Liste. "Seit Ausbruch der Pandemie hat sich die Zahl derer, die bei uns täglich nach Essen anfragen, fast vervierfacht", erklärt der Pfarrer. Normalerweise versorgte seine Kirche täglich um die 300 Personen mit Essen. Heute stellen sich bis zu 1.300 Menschen an.

Notlage durch die Corona-Pandemie

In ganz Spanien und speziell in Großstädten wie Madrid oder Barcelona wächst die Zahl derer, die auf Essensspenden angewiesen sind. Die Lebensmittelbank spricht von 30 Prozent, die Caritas von 40 Prozent. Restaurants, Supermärkte, das Rote Kreuz und Privatpersonen spenden die Nahrungsmittel. "Mal sehen, wie lange der Vorrat reicht. Es wird immer schwieriger, ausreichend Lebensmittel zu bekommen, weil auch andere Organisationen für Hilfsbedürftige anfragen", so Pfarrer Horcajo.

Die Lage in Vallecas im Süden Madrids ist besonders schlimm. Es ist das Armen- und Ausländerviertel der Hauptstadt. Rund 230.000 Menschen leben hier; viele arme Familien und Einwanderer aus Marokko, Schwarzafrika und Lateinamerika. "So eine Notlage hatten wir nicht mal während der schweren Wirtschaftskrise 2008 - und es dürfte noch schlimmer kommen", befürchtet der Pfarrer.

Wirtschaftliche Folgen der Krise

Selbst die Regierung räumt ein, dass die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise viele Menschen in die Armut treiben dürften. Dabei hat schon jetzt ein Viertel der Bevölkerung Schwierigkeiten, am Monatsende alle Rechnungen zu begleichen. 16 Prozent der Bevölkerung gelten offiziell als arm; fast 30 Prozent der Kinder sind von Armut bedroht. Ohne staatliche Unterstützung sähe die Situation für die meisten noch schlimmer aus. Ab Juni will die neue Linksregierung ein bedingungsloses Grundeinkommen für Mittellose einführen - 450 Euro für Alleinstehende, 950 Euro für Familien.

In der Pandemie verbietet die Regierung vorerst Zwangsräumungen wegen säumiger Mieten oder Hypothekenraten. Auch Wasser, Strom und Gas dürfen trotz ausbleibender Zahlungen nicht abgedreht werden. Doch das Panorama ist düster: 2020 dürfte das Bruttoinlandsprodukt um 9,4 Prozent einbrechen, die Arbeitslosenquote von derzeit 13 auf bis zu 21 Prozent steigen. Schon seit Ausbruch von Corona haben fast eine Million Menschen in Spanien ihre Arbeit verloren. In mehr als 1,1 Millionen Haushalten hat kein einziges Familienmitglied mehr einen Job.

Strukturelle Probleme

Das Problem: "Spanien hat keine Lehren aus der schweren Finanzkrise gezogen - und seither wichtige Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt verpasst", erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin und Armutsforscherin Olga Canto. Zu viele Arbeitnehmer haben nur Kurzzeit- oder gar Stundenverträge in saisonabhängigen Branchen wie Tourismus, Landwirtschaft oder auf dem Bau; sie hätten kaum Anspruch auf Sozial- und Arbeitslosenhilfen.

Ein Beispiel ist Over Rios. Vor 18 Jahren ist der heute 50-jährige Ecuadorianer nach Spanien gekommen. "Ich habe auf dem Bau entweder schwarz oder mit Kurzzeitverträgen gearbeitet. Mit der Corona-Krise sind neue Jobs nicht in Sicht. Das Kindergeld für meine Tochter ist derzeit unsere einzige Einnahmequelle", sagt Rios. Bereits seit zwei Stunden steht er in der Schlange für die Armenspeisung an. Wilber Fajardo und die anderen 15 freiwilligen Helfer der Pfarrei verteilen heute Linseneintopf, Kartoffeln mit Speck und Weintrauben.

Helfer selbst hilfsbedürftig

Normalerweise können die Menschen im Saal der Suppenküche essen. Die Massen und die Corona-Schutzmaßnahmen lassen das derzeit nicht zu. Wilber achtet darauf, dass alle in der Schlange zwei Meter Sicherheitsabstand einhalten und ruft sie einzeln zur Tür, wo ihnen eine Tasche mit Tupperdosen übergeben wird, damit sie das Essen mit nach Hause nehmen können.

Wilber und die anderen Helfer aus Lateinamerika sind selbst hilfsbedürftig; sie essen und schlafen in von der Pfarrei angemieteten Wohnungen. "Ich kam vor fünf Monaten nach Spanien, floh vor Armut und Gewalt in meiner Heimat El Salvador", sagt der 20-Jährige. Die 1.000 US-Dollar in der Tasche waren schnell aufgebraucht. "Und mit der Corona-Krise gibt es keine Jobaussichten. So bat ich Pfarrer Horcajo um Hilfe." Als Gegenleistung hilft Wilber bei der Armenspeisung.


Quelle:
KNA