Zum 25. Todestag von Erzbischof Dom Hélder Pessoa Câmara

Der Unbequeme

Vor 25 Jahren starb der brasilianische Erzbischof Dom Hélder Pessoa Câmara. Mit seinen Forderungen nach mehr Gerechtigkeit für die Ärmsten prägte er schon damals die lateinamerikanische Kirche und tut dies auch noch bis heute.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Dom Helder Câmara (KNA)
Dom Helder Câmara / ( KNA )

"Wenn einer alleine träumt, bleibt es ein Traum. Wenn viele zusammen träumen, ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit." Für den Jesuiten Martin Maier ist das eines der prägendsten Zitate von Dom Hélder Câmara. "Natürlich ist das eine Utopie, aber gläubige Menschen sind auch Utopisten", sagt er: "Für mich persönlich ist er ein Vorbild und eine Inspiration!"

Als brasilianischer Erzbischof hatte Câmara die Vision von einer Welt ohne Armut und Ungleichheit. Er war einer der ersten Kirchenmänner Lateinamerikas, die öffentlich die Benachteiligung weiter Teile der Bevölkerung sowie die Unterdrückung und Gewalt in seinem Land anprangerten. Er gilt damit als Wegbereiter der Befreiungstheologie und als Vertreter einer armen Kirche, wie sie heute auch Papst Franziskus predigt. 

Perspektivwechsel

Câmara stammte selbst aus armen Verhältnissen: Am 7. Februar 1909 wurde er in Fortaleza, im armen Nordosten Brasiliens, als elftes von 13 Kindern geboren. Fünf seiner Geschwister starben bereits im Kindesalter. Seine Mutter war Volksschullehrerin und eine fromme Katholikin. Câmara selbst wollte schon als Kind Priester werden. 1931 empfing er im Alter von 22 Jahren die Priester-Weihe, danach kletterte er schnell die kirchliche Karriereleiter hoch, 1952 wurde er zum Weihbischof von Rio de Janeiro geweiht.

"Er hat in seinem Leben selbst diesen Standortwechsel vollzogen von einer Kirche, die eher auf der Seite der Reichen und Herrschenden stand, hin zu einer Kirche der Armen", sagt Maier, der Geschäftsführer des katholischen Lateinamerikahilfswerkes Adveniat ist. Câmara sah in den Armen das Antlitz Jesu, soziale Ungerechtigkeit nannte er "kollektive Sünde".

In Rios Elendsvierteln initiierte er als Weihbischof soziale Projekte zum Bau von Wohnblocks, Schulen und Kindergärten. Mit dem Aufbau der so genannten "Basisgemeinden" schuf er eine neue Form von Kirche, die vor Ort bei den Menschen ist und ihnen die Möglichkeit gibt, eigenständiger eine kirchliche Gemeinschaft mit Leben zu füllen, orientiert an den jeweiligen Lebensumständen und Bedürfnissen. 

Für eine arme Kirche

Câmara selbst verzichtet auf seine kirchlichen Privilegien, er wohnte nicht im Bischofshaus, sondern in einem einfachen Seitenanbau der Kirche. Er schlief in einer Hängematte und hatte keine Hausangestellten, erinnert sich der deutsche Priester Pirmin Spiegel, der ihn in den 1990er Jahren persönlich kennenlernte, als er im Nordosten Brasiliens arbeitete. "Er redete immer mit seinem ganzen Körper: Er hatte eine starke Gestik und Mimik", erzählt er. Am meisten habe ihn beeindruckt, wie sehr der Bischof selbst lebte, was er predigte. 

Als 1962 in Rom das Zweite Vatikanische Konzil begann, nahm auch Dom Hélder Câmara teil. Auf Einladung von Papst Johannes XXIII. kamen damals über 3000 Bischöfe und Laien zusammen, um über die Erneuerung der Kirche zu beraten. Doch weil das Konzil und seine Ideen vor allem europäisch geprägt waren, trafen sich kurz vor dem Ende im Jahr 1965 in den römischen Domitilla-Katakomben 40 Bischöfe  - darunter auch Câmara - und unterzeichneten den so genannten "Katakombenpakt": Gemeinsam verpflichteten sie sich, eine Kirche an der Seite der Armen zu sein, die auf Privilegien, Häuser und Besitz verzichtet. "Und das Spannende ist", fügt Spiegel hinzu, der zuletzt Geschäftsführer des katholischen Entwicklungswerkes Misereor war, "dass Papst Franziskus heute genau diese Terminologie übernommen hat: Das sind die Wurzeln seiner Einfachheit."

Von Rom nach Medellín

Während der Katakombenpakt in Europa wenig verfing, hatte er in Lateinamerika eine enorme Strahlkraft: Er war die Initialzündung für eine Entwicklung, aus der später die Befreiungstheologie hervorgehen sollte. 

1968 - drei Jahre nach dem Konzil – trafen sich in der kolumbianischen Stadt Medellín alle Bischöfe Lateinamerikas: Auch das war relativ neu. 1955 hatten sie sich das erste Mal zu einer Generalversammlung in Rio de Janeiro zusammengefunden und den Lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM gegründet. Das war vor allem auf Betreiben von Bischof Câmara geschehen. 

In Medellín beschlossen die Bischöfe die "Option für die Armen": Das Prinzip, dass Kirche an der Seite der Armen stehen und die Stimme derer sein müsse, die nicht gehört werden. "Nicht aus politischen oder sozialen Gründen, sondern weil es ein zentrales Thema in der Bibel ist", erklärt der Jesuit Maier. "Angefangen bei der Geschichte vom Exodus, wo Gott sein geknechtetes Volk aus der Gefangenschaft in Ägypten führt, über die Propheten bis hin zu Jesus von Nazareth, der predigte: 'Selig seid Ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer!'"

Roter Bischof

Die Parteinahme für die Armen war allerdings in Zeiten des Kalten Krieges heikel, schnell haftete Dom Hélder Câmara der Stempel des "Roten Bischofs" an. "Wenn ich den Armen Essen gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum sie arm sind, nennen sie mich einen Kommunisten", sagte ein einmal. "Die Beschuldigung, Kommunist zu sein, war und ist bis heute in Lateinamerika lebensgefährlich", sagt Maier, "denn damit werden alle Maßnahmen gerechtfertigt, gegen Kritiker vorzugehen."

Wenige Tage nach Câmaras Ernennung zum Erzbischof von Olinda und Recife am 12. März 1964 putschte in Brasilien das Militär mit Unterstützung des US-Geheimdienstes CIA gegen die Regierung und riss die Macht an sich. Die Diktatur sollte sich über 20 Jahre halten:  Staatlicher Mord, Todesschwadronen, Folter und das Verschwindenlassen von Oppositionellen waren an der Tagesordnung. Kritiker lebten gefährlich, auch Câmara, der bei seinen zahlreichen Auslandsreisen die Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat öffentlich anprangerte. Trotz der Todesdrohungen gab er sich gelassen: "Ich bin in der Hand Gottes", sagte er einmal, "ich habe keine Furcht vor dem Tod, wir sind alle zum Tod verurteilt."

Als er 1985 in den Ruhestand ging, folgte ihm ein Bischof, der die Uhren zurückdrehte: Er beendete Câmaras soziale Initiativen und bekämpfte den Einfluss der Befreiungstheologie in Brasilien. Dennoch prägen Câmaras Ideen die Kirche Lateinamerikas bis heute: "Der Übergang von der Wohltätigkeit, der caritativen Sorge in der Kirche, zu der Frage nach dem 'Warum?' und den politischen Verhältnissen, macht deutlich, worum es in der Theologie der Befreiung geht", erklärt Martin Maier: "Sie stellt die Frage nach den Strukturen und damit wird sie unbequem."

Câmaras Erbe

Die Befreiungstheologie bestehe bis heute fort, davon ist der Jesuit überzeugt, auch wenn sie sich verändert habe: Heute nehme sie beispielsweise die Indigenen, die Frauen und die Ökologie in den Blick. "Was bleibt, ist die Option für die Armen, das Bestreben, einen Beitrag zur Veränderung von ungerechter und unmenschlicher Wirklichkeit zu leisten", sagt er. 

Die Verdienste Dom Hélders erkannte auch der Vatikan schlussendlich an: 2015 wurde der Seligsprechungsprozess für ihn offiziell eröffnet. Dass dies unter Papst Franziskus geschieht, für den die "arme Kirche" das zentrale Leitbild ist, ist sicher kein Zufall. 

Auch 25 Jahre nach seinem Tod sei Câmara für ihn und viele Menschen auf dem Kontinent ein "Hoffnungsträger", sagt der Jesuit Maier. Er habe klar gemacht: Gebet und der Blick auf die weltliche Realität gehörten zusammen, auch wenn das von Kritikern immer wieder bestritten werde: "Das steht schon so im Evangelium. Jesus hat viel gebetet, aber er ist auch aktiv geworden, er hat gepredigt, ungerechte Verhältnisse angeprangert und beim Namen genannt." Das dass von den jeweiligen Eliten nicht goutiert werde, liege in der Natur der Sache: "Schon Jesus hat die Option für die Armen gewählt", sagt Pater Maier, "und damit hat er auch provoziert."

Kirche in Brasilien

Mit geschätzt rund 125 Millionen Katholiken (nach offiziellen Taufzahlen des Vatikan 171 Millionen) ist Brasilien das größte katholisch geprägte Land der Welt. Angesichts enormer sozialer Gegensätze ist das Engagement der Kirche für Arme und Entrechtete weithin anerkannt; Brasilien ist einer der Ausgangspunkte der sogenannten Theologie der Befreiung. Zugleich macht der katholischen Kirche eine wachsende Zahl protestantischer und evangelikaler Kirchen und Sekten ihre Rolle streitig.

Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa (dpa)
Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa ( dpa )
Quelle:
DR