Die Glocken geben keine Ruhe. Um 11.30 Uhr hätte der Gottesdienst in der Marienbasilika eigentlich schon längst begonnen haben sollen. Am Dauergeläut stört sich aber niemand in Kevelaer. Das niederrheinische Städtchen ist Wallfahrer gewöhnt - und auch Verspätungen. Endlich nähern sich unter Posaunentönen die 350 Pilger aus Waldfeucht-Haaren - darunter 10 mit Pferden. Die Vierbeiner tänzeln unruhig, als der Zug das kleine sechseckige Gebäude in der Platzmitte umkreist: die sogenannte Gnadenkapelle.
Jedes Jahr finden rund 1.000 Gruppen ihren Weg nach Kevelaer - zu Fuß, mit dem Rad, im Auto, per Bahn, auf Pferden oder Motorrädern. Kanuten erreichen schon mal über die Niers das Ziel: ein Minibild, eine postkartengroße Darstellung der Gottesmutter Maria. Auch die Ehrenrunde der Waldfeucht-Haarener gilt diesem Kupferstich, dem Herz der Gnadenkapelle, ja von ganz Kevelaer.
Für Wallfahrtsrektor Rolf Lohmann ist der Platz um die Kapelle ein Ort der Geborgenheit und Ruhe: "Die Häuser drumherum, die alten Stadtfassaden, sind erhalten. Und in der Mitte ist die Gnadenkapelle mit dem wirklich kleinen Bildchen." Lohmann vermutet gegenüber domradio.de, dass es eines der kleinsten Wallfahrtsbildchen überhaupt ist: "Aber eben mit dieser großen Ausstrahlung."
Handelsmann kaufte das Gnadenbild der Gottesmutter
Seit 375 Jahren zieht das Bild Menschen an. Das Jubiläum feiert der zweitgrößte Marienwallfahrtsort Deutschlands mit einer Festwoche, die am Mittwoch eröffnet wird und bis zum 11. Juni dauert. Aber schon mit Beginn der Wallfahrtssaison wird seit Anfang Mai daran erinnert, wie alles anfing an der alten Handelsstraße von Köln nach Antwerpen.
Es war im Dreißigjährigen Krieg, als Millionen Menschen durch Waffen, Hunger und Seuchen ihr Leben ließen. Soldaten zerstörten auch Kevelaer und töteten etwa 100 Menschen. In diesen Zeiten existenzieller Not ergriffen der Handelsmann Hendrick Busman und seine Frau die Initiative, machten sich aus ihrem "geringen Verdienste täglich eine Ersparnis" und kauften Soldaten aus Luxemburg das Papierbild mit der "Trösterin der Betrübten" ab. Sie berichteten von Eingebungen, einen Bildstock zu bauen, in dem das Gnadenbild dann am 1. Juni 1642 seinen Platz fand.
Später entstand eine Gnadenkapelle
Damit begann eine religiöse Bewegung, die - auch nach Wunderberichten - aus dem kleinen Bauernort eine Wallfahrtsstätte mit derzeit jährlich rund 800.000 Pilgern wachsen ließ. Schon bald wurde für die Pilger ein kleines Gotteshaus, die Kerzenkapelle, gebaut.
Über dem Heiligtum selbst ließen die Kevelaerer wie eine Schutzhülle die Gnadenkapelle entstehen. Ein vergoldeter Silberrahmen um das Madonnen-Bild, eine Ehrenkrone, unzählige Edelsteine und Rosenkränze haben aus dem Kleinod ein Schmuckkästchen gemacht - Zeichen für die Verehrung Marias und die Glaubensgewissheit, dass sie sich für die Beter als Fürsprecherin bei Gott stark macht.
Boom-Zeiten mit Sonderzügen sind vorbei
Wenn es im Mai wärmer wird, finden die täglich bis zu 70 Pilgergruppen ein überschaubares Ambiente in dem rund 28.000-Einwohner-Ort: Wenige Schritte von den Gebetsstätten entfernt suchen die typischen Geschäfte mit Kerzen oder dem Christophorus fürs Auto ihre Kundschaft. Der Gasthof zum Goldenen Hammer - hier wurden einst Pferde der Pilger beschlagen - verbindet Herberge und Devotionalienladen. "So sahen früher die Pilgergaststätten aus", berichtet Ingeburg Schündelen, die den Familienbetrieb in vierter Generation leitet. In ihren Kinderzeiten seien Pilger mit Sonderzügen und Hunderten von Bussen gekommen, erinnert sie sich.
Diese Boom-Zeiten sind vorbei, was auch Bürgermeister Dominik Pichler umtreibt. Für ihn ist die Wallfahrt zwar nach wie vor "Alleinstellungsmerkmal" Kevelaers und damit auch Marketing-Argument. Zusätzlich soll unter dem Motto "Gesund an Leib und Seele" ein Pilgerpark mit Thermalbad entstehen, der neben den "klassischen" Katholiken auch andere Menschen anlockt, die Spirituelles suchen.
Inzwischen kommen mehr Individualpilger
Der Wallfahrtsrektor und neu ernannte Weihbischof von Münster, Lohmann, hat nichts dagegen. Zugleich beobachtet er eine "Renaissance der Wallfahrtsbewegung". Neben den traditionellen Gruppen kämen immer mehr Individualpilger, die schon rund 40 Prozent der Wallfahrer ausmachten. Hunderte Wachslichter an der rußgeschwärzten Außenwand der Kerzenkapelle selbst im Winter, also außerhalb der eigentlichen Pilgerzeit, bestätigen den Trend. Bewegung und Besinnung: Von dieser Mischung lassen sich laut Lohmann gerade viele junge Menschen begeistern - auch wenn sie der Kirche kritisch gegenüberstehen.