Die Rahmenbedingungen sind miserabel: Draußen ist es winterlich-trist; der Touristen-Hotspot ist um diese Jahreszeit verödet; das Hotel und das darin versammelte Publikum haben schon bessere Tage gesehen. Für den Künstler gilt das ebenfalls. Aber Richie Bravo lässt sich davon nicht unterkriegen. Wenn er ans Mikrofon tritt, dann hängen die versammelten Senioren - und speziell die Seniorinnen - an seinen Lippen, und all die Schäbigkeit, die Kälte und das Alter lösen sich für kurze Zeit in einer rosaroten Schlagerwolke auf.
Weltpremiere auf der 72. Berlinale
Dieser Richie Bravo, "bären"-würdig verkörpert von Michael Thomas, ist der Held von Ulrich Seidls "Rimini". Der Film feierte Weltpremiere bei der 72. Berlinale und balanciert ähnlich wie Seidls "Paradies"-Trilogie zwischen dem typisch seidlschen Alltagshorror des Hässlichen und Grotesken und einer diesem Horror hinterrücks abgetrotzten seltsamen Zartheit im Umgang mit dem beschädigten Figurenkabinett.
Richies Sternchen als Schlagersänger ist so weit gesunken, dass er seine spärlichen Einnahmen durch Gigolo-Dienste an einigen besonders hartnäckigen weiblichen Fans aufbessert und sein Heil in immer mehr Alkohol sucht; zudem wird er von familiären Verstrickungen heimgesucht.
Dramaturgie nicht immer stimmig
Gelegentlich knirscht es im dramaturgischen Gebälk. Die Handlung in Österreich, wo Ritchie auf seinen Bruder (Georg Friedrich) und seinen Vater trifft (steinerweichend: Hans-Michael Rehberg, 2017 kurz vor seinem Tod gefilmt), bleibt in der Luft hängen und man selbst auf dem Eindruck sitzen, nur die eingedampfte Version einer Geschichte zu sehen, die mehr epischen Atem bräuchte.
Mit angezogener Handbremse
Dennoch ist Ritchie Bravo, dieser abgeschmackt-manipulative, schamlose Kitschverkäufer, der zugleich ein rührend-tragikomischer Don Quijote des Gefühls in einer durch und durch gefühlskalten Welt ist, eines der Highlights der bislang gezeigten Wettbewerbsauswahl. Schon weil die zähe Unverdrossenheit, mit der der heruntergekommene Schnulzenkönig für ein zahlenmäßig klägliches Publikum allen Widrigkeiten zum Trotz seine Shows durchzieht, im Rahmen dieses omikrongebeutelten Festival-Jahrgangs einen gewissen Identifikationsbonus hat. Schließlich findet auch die Berlinale im Trotzdem-Modus statt und kämpft damit, bei angezogener Handbremse - reduzierte Saalauslastungen, keine Empfänge und Partys, FFP2-Maskenpflicht - Festival-Feeling zu entwickeln.
Programmauswahl sehr wichtig
Da jenseits der Kinosäle wenig davon spürbar werden kann, liegt umso mehr Gewicht auf der Programmauswahl. Und die setzt im Wettbewerb in der ersten Berlinale-Hälfte forciert auf große Gefühle. Francois Ozons Fassbinder-Hommage "Peter von Kant" gab als Eröffnungsfilm die Betriebstemperatur vor. Weitere Beiträge hielten das Emotions-Kraftwerk auf selbem Niveau am Laufen: Da wird geliebt und gestritten, geheult, geschrien und Inventar zerdeppert, als gelte es, der Social-Distancing-Stimmung vor der Leinwand mit besonderer Sensualität und Hitzigkeit auf der Leinwand zu Leibe zu rücken.
Hitziges Liebesdrama
Großartig gelingt das Claire Denis mit dem Liebesdrama "Avec amour et acharnement" ("Both Sides of the Blade"). Die Ehe eines langjährigen Paares (Juliette Binoche, Vincent Lindon), das einander zärtlich zugetan ist, gerät unversehens in eine Schieflage, als ein Dritter ins Spiel kommt. Der Partner der Frau fängt eine Geschäftsbeziehung mit einem alten Freund an, mit dem die Frau früher liiert war. Bei der Frau brechen durch den erneuten Kontakt alte Wunden, Sehnsüchte und Gefühle wieder auf.
Denis inszeniert das mit der ihr eigenen Sensibilität für das, was in Dialogen und zwischen den Zeilen, durch Blicke und mit der Sprache der Körper zwischen zwei Menschen stattfinden kann. Das gestaltet sich in dem Film zunehmend als schmerzhaftes emotionales Tauziehen nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern vor allem auch beider Partner mit sich selbst und den eigenen widersprüchlich-verwirrten Gefühlen.
"Zwischenmenschliche und emotionale Bindungen"
Festivaldirektor Carlo Chatrian hatte im Vorhinein für den Wettbewerb Filme angekündigt, in denen "zwischenmenschliche und emotionale Bindungen" im Fokus stünden. Und das gilt sogar für einen jener typischen politischen Berlinale-Stoffe wie Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush", der um den Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz und die Gefährdung rechtsstaatlicher Prinzipien in Zeiten einer Krise kreist. Der Film tut das von einer hochemotionalisierten Warte aus: aus der Perspektive der Mutter des Inhaftierten.
Dresen und seine Drehbuchautorin Laila Stieler scheinen sich, was den Erzähltonfall angeht, eine Scheibe von Stephen Frears' "Philomena" abgeschnitten zu haben. Sie lockern das Melodram einer zunehmend verzweifelten, um ihren Sohn kämpfenden Frau mit "Odd Couple"-Humor auf, indem sie der temperamentvollen Titelheldin (Meltem Kaptan) einen staubtrockenen deutschen Anwalt (Alexander Scheer) an die Seite stellen.
"Hinreißende Tour de Force"
Eine hinreißende Tour de Force auf der Gefühlsklaviatur legt der Schweizer Wettbewerbsbeitrag "La ligne" von Ursula Meier hin. Der Film kreist um eine einst berühmte Pianistin (Valeria Bruni Tedeschi) und ihre drei Töchter. Schon in der furiosen Eröffnungssequenz fliegen die Fetzen: In verfremdenden Zeitlupenaufnahmen entfaltet sich ein gewalttätiger Clash, bei dem eine der Töchter (großartig gespielt von Schauspielerin/Musikerin Stephanie Blanchoud) ausrastet und ihre Mutter angreift, die schließlich nach einer Ohrfeige auf ihren Konzertflügel knallt und ins Krankenhaus muss.
Ein zunächst rätselhafter Exzess, den man besser versteht, wenn man tiefer in dieses Familiengefüge eindringt und vor allem die Künstler-Matriarchin besser kennenlernt, deren Egozentrik auch sanftere Seelen zur Weißglut treiben könnte. Der Tochter bringt das ein Kontaktverbot ein - womit die titelgebende Linie ins Spiel kommt: Die jüngste Tochter markiert diesen 100-Meter-Abstand zum Familiendomizil mit einer blauen Linie und kreiert damit eine Art Spielfeld: Die Linie trennt die ältere Schwester, die mit ihren Impulskontrollproblemen ringt, zwar von der Mutter und dem Haus, funktioniert aber auch als Zone, wo man sich treffen und die Beziehungen neu verhandeln kann.
Lohnt sich der Besuch?
Dank starker Beiträge wie diesem eindrucksvollen Familienporträt dürfte sich im Lauf der ersten Festivaltage auch die vor Beginn oft formulierte Frage erübrigt haben, ob sich ein Berlinale-Besuch dieses Jahr trotz der Omikron Welle lohnt. So lähmend das vom Sicherheitskonzept diktierte Drumherum des Festivals auch sein mag: In den Kinos selbst gibt sich der Jahrgang 2022 erfreulich leidenschaftlich und lebendig.