Mehr als 300 Morddrohungen, mehr als 400 Fälle von Körperverletzungen. Fünf Monate, nachdem das Hilfswerk Open Doors im Mai in der Bundespressekonferenz einen umstrittenen Bericht zur Verfolgung christlicher Flüchtlinge in deutschen Asylheimen vorgestellt hat, legt die evangelikal geprägte Organisation nun nach:
In einem zweiten Bericht, der zusammen mit der "Aktion für Verfolgte Christen", dem Zentralrat orientalischer Christen in Deutschland und der Europäischen Missionsgemeinschaft am Montag in Berlin vorgestellt wurde, erneuert das Hilfswerk den Vorwurf, dass Christen in Flüchtlingsheimen bundesweit bedroht und diskriminiert würden.
Dunkelziffer möglich
"Wir haben bundesweit dokumentierte Übergriffe auf christliche Flüchtlinge", sagte der Direktor des Hilfswerks, Markus Rode, vor Journalisten. Nach seiner Überzeugung ist dies "nach wie vor nur von der Spitze des Eisbergs". Man gehe von einer "enormen nicht dokumentierten Dunkelziffer" aus.
Für die neue Studie wurden 743 christliche Flüchtlinge befragt. 314 von ihnen wurden nach eigenen Angaben mit dem Tode bedroht, in 416 Fällen ist es demnach zu Körperverletzungen gekommen. 129 der Befragten haben laut Open Doors Anzeige bei der Polizei erstattet.
Die meisten Übrigen gaben an, sich aus Angst etwa vor Racheakten oder vor einem negativen Ausgang des Asylverfahrens nicht an die Sicherheitsbehörden gewandt zu haben.
In mehr als 600 Fällen seien andere Flüchtlinge die Täter gewesen, in rund 200 Fällen Angehörige des Wachpersonals. Im Unterschied zur ersten Studie waren die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte und das Hilfswerk Kirche in Not bei der Vorstellung nicht vertreten.
Angaben nur von betroffenen Flüchtlingen
Die Befragung führte Open Doors mit Hilfe eines Multiple-Choice-Fragebogens durch. Das Werk wandte sich gezielt an Flüchtlinge, die nach Mitteilung örtlicher Gemeinden Opfer von Übergriffen geworden waren. Von ihnen stammten 146 aus Berlin, 136 aus Hessen und 128 aus Nordrhein-Westfalen. Aus fünf Bundesländern, Bremen, dem Saarland, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, lagen dagegen insgesamt 23 Berichte vor. Gut die Hälfte der befragten Flüchtlinge waren nach Angaben der international tätigen evangelikalen Organisation Konvertiten. Von ihnen wechselten 29 Prozent in Deutschland vom Islam zum Christentum.
"Was in den Unterkünften passiert, hat mit dem demokratischen, säkularen Rechtsstaat nichts zu tun", sagte Paulus Kurt vom Zentralrat der Orientalischen Christen in Deutschland. Für die Menschen, die Schutz suchten, seien die Verhältnisse dort eine Katastrophe. "Sie können nicht verstehen, wie es sein kann, dass man nichts unternimmt." Wegen der Verfolgungen hätten Menschen Selbstmord begangen oder seien verzweifelt in ihre Heimat zurückgekehrt.
Frank Seidler von der "Europäischen Missionsgemeinschaft" verwies darauf, dass es im Bereich jesidischer Flüchtlinge zahlreiche weitere Beispiele von Verfolgung gebe. Ein Problem sei auch das Verhalten vereidigter Übersetzer. Vor Journalisten kritisierten Rode und Vertreter der übrigen beteiligten Organisationen, dass derzeit Christen im Schnellverfahren in ihre Heimatländer abgeschoben würden.
"Wir stellen fest, dass die Verfahren derzeit mit einem großen Tempo betrieben werden", sagte Volker Baumann von der "Aktion für Verfolgte Christen". Rode forderte, Christen getrennt unterzubringen und Vertrauenspersonen in Flüchtlingsheimen anzustellen.
Erste Studie erntete Kritik
Nach der im Mai vorgelegten Studie von Open Doors hatten die beiden großen Kirchen im Juli ebenfalls eine Befragung in Flüchtlingsheimen gestartet. Sie kam zum Ergebnis, dass es sich bei den Übergriffen um Einzelfälle handle. Eine flächendeckende und systematische Diskriminierung von Christen sei nicht festzustellen. Auch sie hatten Schwachpunkte bei der Unterbringung in Flüchtlingsheimen benannt und höhere Qualitätsstandards gefordert. Eine getrennte Unterbringung sei aber nur in Erwägung zu ziehen, wenn der Schutz von Angehörigen religiöser Minderheiten nicht anderweitig gewährleistet werden könne.
Die Sprecher der Kirchen und ihrer Hilfsorganisationen Diakonie und Caritas erklärten am Montag auf Anfrage erneut, ihnen lägen keine Hinweise vor, dass Christen in Flüchtlingsunterkünften gruppenbezogener Gewalt ausgesetzt seien. Eine nach Religionen getrennte Unterbringung lehnten sie ab: "In Deutschland muss die Religionsfreiheit an jedem Ort für alle gleichermaßen gewährleistet sein und staatlich durchgesetzt werden."