domradio.de: Warum war es damals so ungewöhnlich, dass ein Bischof eines kleineren Bistums Vorsitzender der Bischofskonferenz wurde?
Matthias Drobinski (Kirchenexperte und Redakteur der Süddeutsche Zeitung): Es gab eine ungeschriebene Regel seit Ende des Krieges, dass die Erzbischöfe und dann auch Kardinäle der Erzbistümer Köln und München sich abwechseln. Es folgte ein Münchener auf einen Kölner und umgekehrt. Dann starb der Kölner Kardinal Höffner und man brauchte dringend einen neuen Vorsitzenden. Der eigentliche Kandidat wäre der Münchner Kardinal Wetter gewesen. Das lehnten aber die Weihbischöfe ab. Es gab eine junge Generation von Weihbischöfen, die sagten, man muss mit der Tradition brechen, wenn man den Eindruck hat, dass es jemanden gibt, der das besser kann.
Der spätere Kardinal Lehmann hatte sich eine größere Reputation als Wissenschaftler erarbeitet und galt als einer der führenden Intellektuellen. Tatsächlich waren viele Weihbischöfe der Meinung, dass es einen Bischof braucht, der die Kirche nach außen vertreten kann. Auch das war neu. Die Bischofskonferenz galt lange als ein Gremium, dass sich traf, während jeder Bischof sein eigenes Ding machte. Nun war die Erkenntnis, das dies für die Gesellschaft nicht mehr reicht. Die Bischöfe sagten: Es braucht jemanden, der unser Gesicht, unser Kopf und unsere Stimme ist. Da kam man auf den damaligen Bischof Lehmann.
domradio.de: Lehmann war davor ein angesehener Theologieprofessor und gilt bis heute als liberal. Wie hat er das Amt geführt?
Drobinski: Er hat das Amt schon sehr profiliert und bis heute geprägt. Er ist derjenige, der gesagt hat, dass es jemanden braucht, der in der Öffentlichkeit für die katholische Kirche steht; der sich in Diskurse einmischt und der ein Format hat und gehört wird. Das war sicherlich wichtig. Er hat der katholischen Kirche lange eine gewichtige Stimme in der Gesellschaft gegeben. Es gab eine Menge Konflikte in der Zeit, starke innerkirchliche Konflikte. Es gab die Debatte, ob die Bischöfe von der Königsteiner Erklärung Abstand nehmen sollen – die Erklärung der Bischöfe von 1968 auf die "Pillen"- Enzyklika, dass jeder Katholik seinem katholisch geprägten Gewissen folgen sollte – wo viele sagten, das ist der Einstieg in die Beliebigkeit. Dem verweigerte sich Lehmann.
Es gab auch den Streit um die Schwangerenkonfliktberatung, wo die Frage aufkam, ob kirchliche Stellen Schwangere beraten und einen Schein ausstellen dürfen, der zur Abtreibung berechtigt. Da kam großer Druck aus Rom. Es gab sehr viele Konflikte mit Johannes Paul II. und seinem Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Josef Ratzinger. Diese beiden waren noch die Antipoden der deutschen Theologie. Auf der einen Seite stand Josef Ratzinger als entschiedener intelligenter Konservativer, auf der anderen Seite Bischof Lehmann als entschiedener intelligenter Liberaler. Es dauerte sehr sehr lange bis Kardinal Lehmann den Kardinalshut bekam. Erst 2001 wurde er zum Kardinal ernannt. Bis dahin dahin wurde er deutlich übergangen, um zu zeigen, wir wissen, dass du uns immer piesackst.
domradio.de: Bleiben wir bei der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung. Letztendlich hat ihn der Papst geklärt, allerdings nicht im Sinne von Kardinal Lehmann. Wie ist der Kardinal damit umgegangen?
Drobinski: Er hat sich dem schweren Herzens gebeugt, wie ich aus einigen Gesprächen weiß. Er tat es mit dem Eindruck, das sein Weg der richtigere wäre. Er hat aber trotz allem Treue zu seiner Kirche versprochen und daran hat er sich auch gehalten. Er war in diesem Sinne kein Revolutionär. Dies war auch der Vorwurf von liberaler Seite – von Kirchenreformern bis hin zu Hans Küng – dass er nicht genug mutigen Widerstand leistet. Er selbst, denke ich, hatte den Eindruck, dass wenn die Dinge in Rom so entschieden wurden, er seinem Gehorsamsversprechen gegenüber dem Papst gebunden ist, auch wenn es schweren Herzens ist.
Ich habe ihn mal vor ein paar Jahren getroffen. Da war gerade der Streit um die geschiedenen Wiederverheirateten aktuell. , ob sie zur Kommmunion gehen dürfen oder nicht. Da hatte Lehmann mit den Bischöfen Saier aus Freiburg und Kaspar aus Rottenburg-Stuttgart, dem späteren Ökumenechef des Papstes, einen Vorschlag gemacht. Der wurde aus Rom brüsk abgelehnt. Und selbst 20 Jahre später zeigte er mir seinen Regalmeter an Büchern, Schriften, Entwürfen und sagte: "Das Thema ist nicht erledigt." Daran merkt man, dass solche Dinge sehr in ihm arbeiten, er es aber besser findet, 30 Jahre lang an einem Thema zu bohren, immer weiterzugehen, alles zu lesen als den großen Aufstand zu wagen. So war es auch bei diesem Thema. Er hat sich schweren Herzens entschlossen, sich zu beugen.
domradio.de: Ist es diese Art und Weise wie er die deutsche Kirche geprägt hat?
Dobrinski: Im guten wie im schlechten, ja. Natürlich hätte man sich manchmal auch eine mutigere Bischofskonferenz gewünscht; eine, die sagt: "Wir sehen das anders mit der Schwangerenberatung und wir verhalten uns anders." Das war nicht drin. Andererseits hätte das die Kirche auch gespalten. Ich glaube, dass Kardinal Lehman versucht hat, die katholische Kirche zusammenzuhalten und zu integrieren. Sie haben es ja schon gesagt, dass die Kirche damals ganz anders dastand vor 30 Jahren als sie es heute tut.
Sie war noch nicht erschüttert von den Missbrauchsskandalen, die sozusagen unter Bischof Lehmann schon sichtbar wurden. Als im amerikanischen Boston die ersten Fälle auftauchten, hat er immer noch abgewiegelt mit den Worten, "diesen Schuh braucht sich die deutsche Kirche nicht anziehen." Das würde er heute sicherlich anders sehen.
Wenn ich die Amtsführung von Karl Lehmann sehe, dann sehe ich den Versuch durch Beharrlichkeit, die Kirche zusammenzuhalten und den schwierigen Weg der Modernisierung zu gehen ohne gute Traditionen über Bord zu werfen. So würde ich diese Zeit beschreiben.
Das Gespräch führte Milena Furmann.