Wer war Martin Luther?

Gottsucher oder Streitsüchtiger?

Reformkatholik oder Revolutionär? Gottsucher oder Streitsüchtiger? Wer war Martin Luther, dessen Wirken der Bruch mit der Kirche zugeschrieben wird? Der Dogmatikprofessor Josef Freitag gibt im domradio.de-Interview Antworten.

Lutherdenkmal in Wittenberg / © Benedikt Plesker (KNA)
Lutherdenkmal in Wittenberg / © Benedikt Plesker ( KNA )

domradio.de: Für den ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Gerhard Ludwig Kardinal Müller, war die Reformation in Wirklichkeit eine Revolution und "wider den Heiligen Geist" gewesen. Das schrieb er in dieser Woche in einem Beitrag für die Internetseite "La Nuova Bussola Quotidiana". Teilen Sie diese Einschätzung?

Prof. Dr. Josef Freitag (Dogmatiker, Spiritual des Studienhauses St. Lambert in Lantershofen): In dieser Schärfe sicher nicht. Schon in den Formulierungen merkt man, dass Kardinal Müller es polemisch gemeint hat. Ich kann nicht gleichzeitig Polemik betreiben und auf den Polemiker Luther schimpfen. Unsere Aufgabe heute ist eine andere, nämlich so einander zuzuhören, dass wir uns miteinander versöhnen können. Das ist der einzige Weg, den Willen Christi zu tun, eins zu sein, eins zu werden, einig zu bleiben. Wir wissen aus innerkatholischer Erfahrung - und jetzt muss ich das unterscheiden von innerrömischer Erfahrung, weil es ja auch die Ostkirchen gibt -, dass Katholischsein in diesem Sinne nicht uniform oder einheitlich ist, sondern in verschiedenen Artikulationen gelebt werden kann.

domradio.de: Ganz zimperlich war Martin Luther aber auch nicht. Das römische Papsttum bezeichnete er als "vom Teufel gestiftet" und ging mit der Sakramentenlehre ins Gericht. Muss man da nicht Kardinal Müller Recht geben, dass Luther damit "sämtliche Prinzipien des katholischen Glaubens hinter sich gelassen hat"?

Prof. Freitag: Nein, weil Luther zwar mit der Sakramentenlehre - wenn es die im Singular gibt - Schwierigkeiten gehabt hat, die man heute zumindest nachvollziehen kann, er aber ganz eindeutig die Sakramente beibehalten hat, und zwar nicht - wie sie katholisch gezählt werden - alle sieben. Da müsste ich dem Kardinal Recht geben. Aber er hat die beiden Hauptsakramente, nämlich Taufe und Eucharistie bzw. Abendmahl, als Sakramente beibehalten. Die Confessio Augustana (1530), die nun wirklich das Grundbekenntnis derer ist, die sich später als lutherische Kirchen bezeichneten, sagt: Die Kirche wird aufgebaut und man wird gerechtfertigt im Glauben durch Wort und Sakrament. Es ist ein grobes Missverständnis, ja eine Falschaussage, wenn man Luther und den Lutheranern einen fehlenden Sakramentenglauben unterstellt. Diesen Punkt halte ich für ganz wichtig. Im Verhältnis der Sakramente untereinander bekennt das Konzil von Trient ausdrücklich, dass nicht alle Sakramente gleichwichtig sind. Wir können deswegen nicht von eins bis sieben zählen und sagen: Da fehlt eins, ergo ist er Häretiker. Wir müssen uns klar machen: Was wird in den Sakramenten gefeiert? Im Kern empfangen wir in ihnen unsere Teilhabe an Sterben und Auferstehen Jesu, an seinem neuen Leben (vor seinem wie nach seinem Tod), und das in unterschiedlicher Konkretion bzw. Variation.

domradio.de: Wohlmeinende Worte für Martin Luther hatte Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in Erfurt 2011 gefunden. Luthers Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" treffe Benedikt immer wieder ins Herz. Was war Luther nun, ein Gottsucher oder ein Streitsüchtiger?

Prof. Freitag: Wenn die Gegenüberstellung so einfach wäre, dann wäre das Urteil wirklich leicht. Aber der interessante Punkt ist doch: Weil ich Gott suche und mich nach ihm zu richten suche, komme ich mit anderen Leuten in Streit. Das ist bei Jesus am einfachsten abzulesen. Sein Verständnis und seine Praxis Gottes als barmherzigen Vaters bringen ihn mit anderen, die Gott ebenfalls suchen, in Streit - und zwar um Gottes willen. Das führt bei Jesus nicht zur Gewaltanwendung, sondern zum Erleiden von Gewalt. Bei Augustinus findet man einen entscheidend wichtigen Aspekt der Gottsuche und des  Gottesglaubens noch deutlicher: Ich muss weitersuchen, gerade weil ich Gott gefunden habe, der immer größer ist als das, was ich gefunden habe. Ich darf und soll das Gefundene und den Gefundenen bezeugen, aber darüber hinaus bleibt Gott größer. Gott taugt nicht als Waffe, andere fertig zu machen. (Im Namen Gottes kann ich nicht töten!) Das ist anzuerkennen. Wir werden nie Menschen, die über Gott verfügen und deswegen auch nie über den Glauben anderer. Ich kann zum Glauben anstiften, aber ich kann nie im letzten den Glauben des Anderen kontrollieren. Gottsuche und Gotteserfahrung erfolgt als Ringen um, aber nicht als Streiten gegen. Nicht das "contra", sondern das "pro" ist bestimmend. Das "contra" ist immer nachgeordnet. Vergleichen Sie nur den Text des Glaubensbekenntnisses. Es gibt Überzeugungen, die mit diesem Glauben unvereinbar sind und dann auch so markiert werden.

domradio.de: Im Jahr der Reformation wird die Person Martin Luthers immer wieder mit Glaubens- und Gewissensfreiheit in Verbindung gebracht, worauf sich die evangelische Kirche beruft. Zu Recht oder zu Unrecht?

Prof. Freitag: Ohne Glaubens- und Gewissensfreitag können weder Katholiken noch Lutheraner leben, um das grundlegend zuerst festzuhalten. Dann ist der zweite Punkt der, dass Luther tatsächlich nach seinem Gewissen gehandelt hat und zwar nicht nur gegenüber Menschen außerhalb seines eigenen Lagers, sondern auch innerhalb; aus der "Schutzhaft" auf der Wartburg hat er sich für seinen "Ausflug" nach Wittenberg mehr auf Gottes als des Fürsten Schutz und Gebot verlassen; am allerdeutlichsten und folgenreichsten Zwingli  gegenüber im berühmten Marburger Religionsgespräch, wo es um die wirkliche Gegenwart Jesu im Abendmahl ging. Da hat Luther im Endeffekt nach seinem Gewissen entschieden - und dafür den Bruch in der Reformation in Kauf genommen - mit den beiden Grundargumenten, die wir bis heute dafür haben: Nämlich einmal das Wort Gottes, wie es in der Schrift bezeugt ist ("Das Wort sie sollen lassen stahn"); und zum anderen, die Vernunft, hier in philologischer Gestalt (das ist mein Leib). Das Verstehen des Wortes Gottes und der Vernunft bleibt ein unabgeschlossener Prozess, aber das nimmt ihm nicht seine Verbindlichkeit. In der letzten Zeit hat niemand so sehr die Rolle der Vernunft für den Glauben betont wie Benedikt XVI. Wir brauchen Gottes Wort bzw. den Glauben und die Vernunft in ihrer Gegenseitigkeit, ihrem Zu- und Miteinander. Papst Benedikt vertrat nachdrücklich die Überzeugung, dass gegen die Vernunft keine Religion auf Dauer bestehen kann. Das heißt nicht, dass Religion bzw. Glaube von der Vernunft ableitbar ist. Das hat Pascal sehr schön ausgedrückt: Das Herz hat Gründe, die die Vernunft alleine nicht kennt (Le coeur a des raisons qui la raison ne connait pas). Aber Glaube bzw. Religion kann nicht widervernünftig sein. Deswegen auch das große Ringen im Christentum, angefangen von den Apologeten, den Glauben - um der anderen, um aller Menschen willen, die der Glaube erreichen will - bezeugbar, mitteilbar, kommunikabel  zu formulieren, dass  er für einen anderen und seine Einsicht nachvollziehbar werden kann. Ich kann niemanden wider sein besseres Wissen oder wider seine Einsicht zum Glauben bringen. Glauben setzt Freiheit voraus. Er ist ohne Vertrauen und Zustimmung nicht möglich.

domradio.de: Ist das etwas Evangelisches oder Katholisches?

Prof. Freitag: Gewissen und Gewissensfreiheit evangelisch zu verorten, und den Katholiken einen Autoritäts- oder Lehramts- bzw. Kirchenglauben zuzuschreiben ist Polemik von Gestern und in der Sache meiner Ansicht nach absolut nicht zutreffend. Warum wäre sonst Luther für das (Neu)Verstehen des Wortes Gottes, der Heiligen Schrift so zentral? Und warum hören die Katholiken im Gottesdienst das Evangelium und nicht einfach den Katechismus oder den Papst? Das Gewissen ist keine absolute, schon gar keine isolierte, sondern eine kommunikativ konstituierte und nur so verbindliche Instanz. Gleich wie es sich entscheidet, es ist nie absolut in sich, nie völlig unabhängig von den anderen, sondern immer aus den Auseinandersetzungen und Erfahrungen des eigenen Lebens so geworden, wie es jetzt ist und urteilt. Es ist und bleibt interkommunikativ und geschichtlich verfasst. (Lutherisch kann man sich das Evangelium nicht selbst zusprechen, es muss einem gesagt werden! Es bleibt beim extra nos des Heiles, weil es von Gott kommt). Wenn sich jemand gegen die Überlegungen anderer immunisiert, schadet das seinem Gewissen mehr als dass es ihm nützt! Weil interkommunikativ, muss das Gewissen verantwortet werden, vor Gott und den Menschen. Der Richter bleibt Gott. Das eigene Gewissen bleibt zu bilden. Wohl eine einzelne Aussage des Gewissens kann man bestreiten, aber keinem anderen Menschen ist sein eigenes, mögliche Gewissen abzusprechen, weil ich ihm sonst die Grundlage dafür abspreche, dass er zum Glauben kommt. Denn er glaubt auch nach katholischer Lehre nicht nur einfach der Kirche, sondern er glaubt Gott, dem sich offenbarenden Gott. Da sehe ich zwischen Lutheranern und Katholiken keinen wesentlichen Unterschied. Der Unterschied liegt im Stellenwert der Kirche für die Vermittlung dieses Glaubens.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

 

Quelle:
DR