"Das haben wir nicht verdient." Der ehrenamtliche Mitarbeiter der Essener Tafel ist empört. Seit Tagen prasselt auf die 120 Helfer scharfe Kritik für den Beschluss ein, die Aufnahme von Ausländern als neue Kunden auszusetzen.
Einige Ehrenamtliche kämen nun aus Angst nicht mehr, nachdem in der Nacht zum Sonntag mehrere Fahrzeuge der Tafel mit Nazi-Beschimpfungen beschmiert worden waren, sagt der Mann, der namentlich nicht genannt werden möchte. Dabei habe man nur mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lebensmittel schaffen wollen.
Seit einiger Zeit unter Druck
Die Essener Tafel stand offenbar bereits seit einiger Zeit unter Druck. Seit 2015 war der Anteil der Migranten unter den 6.000 Kunden von 35 auf 75 Prozent gestiegen. Und während die Nachfrage durch den Zuzug von Flüchtlingen anschwoll, nahm die Menge der gespendeten Lebensmittel ab. Zwei Logistikzentren großer Lebensmittelhändler seien geschlossen worden, erklärt der Tafel-Mitarbeiter. "Das fehlt uns nun einfach." Dass nun Politiker auf Ehrenamtliche schimpfen, die versuchen, einen immer kleiner werdenden Kuchen an mehr Menschen zu verteilen, empfinden die Essener Tafel-Mitarbeiter als "bodenlose Unverschämtheit". "Die kümmern sich ja sonst auch einen Dreck um uns."
Tatsächlich müssen auch andernorts Tafeln mit weniger Lebensmittelspenden bei hoher Nachfrage zurechtkommen. Der Grund: Die Logistik der Lebensmittelhändler werde immer besser, sagt der Leiter der Hamburger Tafel, Christian Tack. "Daher gibt es immer weniger überschüssige Ware." Teilweise hätten deshalb einige der 26 Hamburger Ausgabestellen auch schon einmal vorübergehende Aufnahmestopps verhängen müssen. Die galten jedoch dann für alle Gruppen.
Auch in Essens Nachbarstadt Oberhausen, wo 60 Prozent der Tafel-Kunden Migranten sind, gibt es keinerlei Schwierigkeiten bei der Ausgabe. Während die Kunden in Essen ihre Waren in einem bestimmten Zeitfenster abholen dürfen, arbeiten die Oberhausener - so wie die meisten Tafeln - mit Nummern. Die ziehen die Kunden bei ihrem Eintreffen und erhalten später vorbereitete Lebensmittelpakete. "Das läuft hier ganz diszipliniert ab", sagt Tafel-Leiter Josef Stemper.
Keine gute Lösung gefunden
Der Vorsitzende des Dachverbandes der Tafeln, Jochen Brühl, räumt ein, dass die Essener Tafel keine gute Lösung für ihre Verteilprobleme gefunden habe. Heuchlerisch seien allerdings die empörten Reaktionen von Politikern wie Bundessozialministerin Katarina Barley (SPD), deren Ministerium die Schirmherrschaft über die Tafeln hat, sagt er. Denn schließlich sei es Aufgabe von Politik und Gesellschaft, Flüchtlinge und andere Bedürftige ausreichend zu versorgen. Stattdessen verwiesen offizielle Stellen Migranten aber oftmals gezielt an die die privat und ehrenamtlich geführten Tafeln.
Die Mitarbeiter seien mit dem Ansturm teilweise überfordert. "Das ist kein Rassismus, das ist Hilflosigkeit," sagt Brühl.
Die Ereignisse in Essen machten deutlich, dass die Tafeln "am Punkt ihrer Belastungsgrenze" angekommen seien, sagt der Armutsforscher und Tafel-Kritiker Stefan Selke. Obwohl derzeit noch viele Tafeln besser mit den Problemen zurechtkommen, glaube er nicht an eine Ausnahmesituation. "Essen ist vielleicht der erste Fall, wird aber kein Einzelfall bleiben", sagt Selke. "Essen ist der Indikator für das Systemversagen der Tafeln." Die Überforderung werde weitere irrationale Lösungsversuche ähnlich wie in Essen hervorrufen. Die Tafeln erlebten nun den "Bumerang-Effekt ihrer eigenen Expansion".
Tafeln als Vollversorger wahrgenommen
Das Problem liegt aus Selkes Sicht darin, dass die Tafeln ihr Angebot immer weiter ausgebaut und sich damit vielerorts zum Äquivalent einer sozialstaatlichen Dienstleistung entwickelt haben.
Oftmals würden die Tafeln als Vollversorger wahrgenommen. "Dann ist es kein Wunder, dass sie überrannt werden." Die Tafel-Idee müsse wieder zu ihren Ursprüngen zurückkehren, nämlich Überflüssiges zu verteilen, fordert Selke. Stattdessen versuchten die Tafeln vielfach, Fehlendes zu ersetzen, was darin gipfele, dass sogar vereinzelt aus Spenden Lebensmittel zugekauft würden.
Wer über der ganzen Debatte vergessen werde, seien die Menschen, die oft mit großer Scham aus Not auf das Angebot der Tafeln angewiesen seien, kritisiert Brühl. In einem Punkt ist er mit Selke einig: "Diese Menschen werden zu wenig gehört." Eigentlich müsse es darum gehen, Perspektiven zu entwickeln, die die Tafeln überflüssig machten. In Essen fühlen sich die Tafel-Helfer im Stich gelassen und überfordert. "Wir können kein Korrektiv für eine verfehlte Sozialpolitik sein," schimpft der ehrenamtliche Mitarbeiter.