Der Solinger Anschlag von 1993 und das politische Klima

"Wir konnten es alle nicht fassen"

Als Neonazis vor 25 Jahren den Brandanschlag in Solingen verübten, saß Sylvia Löhrmann für die Grünen im dortigen Stadtrat. Im Interview erinnert sie sich an den Tag und ein politisch aufgeheiztes Klima.

Brandanschlag in Solingen  / © Franz-Peter Tschauner (dpa)
Brandanschlag in Solingen / © Franz-Peter Tschauner ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie den 29. Mai 1993 erlebt?

Sylvia Löhrmann (Grünen-Politikerin): Den Tag selbst habe ich nicht so intensiv erlebt, man muss sich wieder erinnern: Wir hatten keine Handys. Ich war damals am Pfingstsamstag auf dem Weg in die Partnerstadt Aue, um dort Freunde zu besuchen. Und dann kamen die Nachrichten von einem Anschlag in Solingen. Wir hatten zwar die Sirenen gehört, aber es stand noch nichts in der Zeitung. Wir, mein Mann und ich, sind dann sofort umgekehrt, denn wir waren alle gefordert. Wir konnten es alle nicht fassen und das kommt natürlich an so einem Gedenktag wie heute alles wieder hoch.

DOMRADIO.DE: Sie waren heute bei der Gedenkfeier in Düsseldorf dabei, als Privatperson und als Freundin bzw. Bekannte der Familie Genç. Wie war diese Gedenkveranstaltung?

Löhrmann: Gott sei Dank ist es gelungen, dass die richtigen Worte von den Beteiligten gefunden wurden. Mich beeindruckt immer wieder wie sehr Frau Genç, die nun fünf enge Familienangehörige verloren hat, es immer wieder schafft, trotz des Schmerzes zu sagen: "Wir müssen nach vorne gucken nicht zurückblicken. Wir müssen doch alle friedlich miteinander in diesem Land leben." Sie hat betont, dass die Türkei ihre Heimat ist, aber dass sie jetzt auch in Deutschland zuhause ist. Mit solchen großen menschlichen Worten straft sie eigentlich all jene Lügen, die immer noch denken, Deutschland sei ein Land, in dem Fremde nichts zu suchen haben und nicht akzeptieren wollen, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Darauf kommt es an und das ist meiner Meinung nach mehr denn je in Gefahr. Deswegen ist es ein sehr besonderes Gedenken in diesem Jahr in Deutschland.

DOMRADIO.DE: Bundeskanzler Helmut Kohl nahm damals nicht an der Trauerfeier für die Opfer teil, weil er– wie sein Sprecher erklärte – nichts von "Beileidstourismus" hielt. Wie haben Sie das damals empfunden?

Löhrmann: Dafür habe ich damals kein Verständnis gehabt und auch heute nicht. Deswegen war es auch sehr gut, dass die Kanzlerin heute da war. Dass die Diskussion um die Türkei und den Außenminister nicht im Vordergrund stand. Die Lage in der Türkei ist heute eine andere als damals, das verstehe ich alles. Aber das Gedenken und die Aufforderung, die Mahnung an unsere Gesellschaft, das war heute entscheidend. Ich kann nur allen Menschen wünschen, auch den Politikern, die nach rechts blinken, dass sie Frau Genç einmal persönlich begegnen. Dann würden sie vielleicht auch anders sprechen.

DOMRADIO.DE: Es gab damals eine ziemlich aufgeheizte Stimmung in Deutschland. Viele Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien kamen zu uns, das Asylrecht wurde geändert, es gab diesen viel zitierten und gerne benutzten Satz: "Das Boot ist voll". Sehen Sie Parallelen zu heute?

Löhrmann: Auf jeden Fall und das treibt mich sehr um. Man merkt, dass es eine Verschiebung nach rechts gegeben hat. Wenn man mich damals gefragt hätte, ob ich mir hätte vorstellen können, dass heute Rechtsradikale und in Teilen rechtsextremistische Abgeordnete im Deutschen Bundestag und in vielen Landtagen sitzen, hätte ich gesagt: "Nein". Trotz dieser Anschläge. Das ist das eine.

Darüber hinaus sehe ich auch Parallelen in der Rhetorik, die Fremdenfeindlichkeit begünstigt. Auch Kanzlerin Merkel und Ministerpräsident Laschet haben das heute angesprochen. Wir müssen einfach aufpassen, was wir mit unserer Sprache tun. Denn der Sprache folgt Handeln und das kann solche Folgen haben.

Auf der anderen Seite sehe ich aber auch, was die Gesellschaft gelernt hat: Wir haben eine Einwanderungsgesellschaft, die wir gestalten. Wir wissen um die Bedeutung von Bildung, von gutem Zusammenleben und daran muss weiter gearbeitet werden, damit dieser Rechtspopulismus nicht noch mehr greift, als er es ohnehin schon getan hat. Und da ist die Politik gefordert, die Medien sind gefordert und natürlich die ganze Gesellschaft.

DOMRADIO.DE: Sollte sie nicht auch Gegenwehr leisten? Gerade hat die AfD in Solingen ganz öffentlich die rechtsradikalen Motive dieser Tat von damals bezweifelt. Fällt Ihnen dazu noch etwas ein?

Löhrmann: Das ist unsäglich und da fehlen mir die Worte, denn es gibt ein Gericht, das die Täter schuldig gesprochen hat. Und wir hatten die NSU-Morde, bei denen auch erst später herauskam, dass sich die Menschen in der Keupstraße nicht untereinander umgebracht haben.

Das muss man sich nochmal klar machen, dass staatliche Behörden hier auf dem rechten Auge blind waren. Das hat auch die Kanzlerin eingestanden und das gehört zur Geschichtsaufarbeitung dazu. Das kann man nur zurückweisen und man sollte sich den wirklich wichtigen Aufgaben stellen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde jedes Menschen, nicht nur die der Deutschen und Deutschstämmigen. 

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Sylvia Löhrmann / © Marius Becker (dpa)
Sylvia Löhrmann / © Marius Becker ( dpa )

Bundeskanzlerin Angela Merkel (l.) mit Mevlüde Genc / © Rolf Vennenbernd (dpa)
Bundeskanzlerin Angela Merkel (l.) mit Mevlüde Genc / © Rolf Vennenbernd ( dpa )
Quelle:
DR
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