Kann man aus der Geschichte lernen? Manchmal jedenfalls wirft ein historisches Ereignis ein besonderes Licht auf die Gegenwart: Während die EU-Regierungschefs derzeit über die Flüchtlingsfrage beraten, jährt sich die internationale Flüchtlingskonferenz von Evian-les-Bains zum 80. Mal. Es ging um die Aufnahme verzweifelter jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland.
Bei vielen Juden weckte das US-Engagement Hoffnung
Spielbank, Heilbäder, See: "Auf der breiten Freitreppe vor den kleinen Cafes saßen braungebrannte Menschen bei milchig-grünen Aperitifs", so beschrieb Korrespondent Hans Habe die Atmosphäre des Städtchens auf der französischen Seite des Genfer Sees, das vom 6. bis 15. Juli 1938 ins internationale Rampenlicht rückte.
Zweiunddreißig Staaten schickten Vertreter ins luxuriöse "Hotel Royal". 39 Hilfsorganisationen ließen sich bei der von US-Präsident Franklin D. Roosevelt initiierten Konferenz akkreditieren. Bei vielen Juden weckte das US-Engagement Hoffnung. Schließlich war in vielen europäischen Staaten der Antisemitismus stärker geworden.
"Tausende blicken auf diese Konferenz als Richter über ihr Schicksal", schrieb die US-Publizistin Dorothy Thompson. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Aktion des Präsidenten lediglich auf Propaganda hinausliefe.
Jüdische Bürger mussten mit Zahnbürsten die Straßen reinigen
Doch die Flüchtlingskonferenz wurde zum Offenbarungseid: Schon im Einladungsschreiben hatte die US-Regierung betont, dass "von keinem Land erwartet oder gefordert wird, eine größere Anzahl von Emigranten aufzunehmen, als es seine Gesetzgebung erlaubt".
Dabei hatte der Druck auf die Juden in Deutschland stark zugenommen: Schon seit 1933 wurden sie immer stärker diskriminiert, aus vielen Berufen und aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und ihrer Bürgerrechte beraubt. Der "Anschluss" Österreichs im März 1938 machte dann klar, dass es keinen Schutz mehr gab: Jüdische Bürger mussten mit Zahnbürsten die Straßen reinigen.
Misshandlungen und Erniedrigungen trieben Hunderte in den Selbstmord und Tausende in die Flucht. Vor diesem Hintergrund wurde Evian für die 540.000 deutschen Juden, davon 190.000 in Österreich, zur Katastrophe. Der US-Vertreter machte klar, dass sein Land nicht gewillt sei, die eigene Quote von 27.370 Einwanderern aus Deutschland und Österreich zu erhöhen.
Kein Land wollte Juden aufnehmen
Der Franzose Henry Berenger wies darauf hin, dass sein Land 200.000 Flüchtlinge aufgenommen habe. Die Ressourcen seines Vaterlandes seien leider nicht unbegrenzt. Der belgische Delegierte sagte, sein Land wolle keine Juden mehr aufnehmen, weil sonst eine antisemitische Welle zu befürchten sei.
Große Hoffnung hatten die Hilfsorganisationen auf das britische Empire gesetzt. Doch Lord Winterton erklärte: "Das Vereinigte Königreich ist kein Einwanderungsland." Immerhin eröffnete er die vage Aussicht, dass möglicherweise "eine begrenzte Zahl ausgewählter Familien zumindest für einen Anfang" in der Kolonie Kenia unterkommen könnten. Über das britische Mandatsgebiet Palästina verlor er – zur großen Enttäuschung der zionistischen Organisationen – kein Wort.
Wegen arabischer Unruhen versuchten die Briten, die jüdische Einwanderung zu drosseln. Das einzige Ergebnis des Treffens war die Gründung eines Komitees, das die Arbeit der Konferenz fortsetzen sollte – und bis zum Kriegsausbruch noch dreimal tagte. Es war offenkundig, dass kein Land die Juden aufnehmen wollte. Stattdessen verschärften die Staaten ihre Einwanderungsgesetze und machten die Grenzen undurchlässiger.
Hitler-Deutschland reagierte mit Zynismus
Jahre später erinnerte sich die Konferenzbeobachterin und spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir: "Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst Ihr denn nicht, dass diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn Ihr sie nicht aufnehmt?"
Hitler-Deutschland reagierte mit Zynismus. Evian sei "ein großer Reinfall" gewesen, spottete der "Völkische Beobachter". Niemand wolle die Juden haben, statt dessen "trifft man also Vorsorge, sich vor einem Zustrom jüdischer Einwanderer zu schützen, weil man die Nachteile einer Verjudung klar erkannt hat."
Von Christoph Arens